Populaermusik Aus Vittula
wurde.
»Eins, zwei, drei, vier - (jetzt!).«
Niila meinte, er wäre noch nie eine große Leuchte in Mathe gewesen. Worauf Greger seine behinderte Hand hoch hielt und Niila aufforderte, die Fingerstümpfe zu zählen.
»Vier Finger sind weg, die müssen schweigen«, erklärte Greger freundlich. »Also fängt die Musik im Daumen an!«
Sonderbarerweise funktionierte das. Zum ersten Mal legten wir zur rechten Zeit los. Und noch heute kommt es vor, dass ich Gregers Fingerstümpfe vor mir sehe, wenn ich jemanden ein Lied anzählen höre.
Wir übten den ganzen Herbst über. Nutzten jede freie Minute. Die Pausen, die Freistunden und nach der Schule. Und endlich, während einer Mittagspause, gelang es uns doch noch, eine einigermaßen bluesartige Tonfolge zustande zu bringen.
Greger horchte und nickte befriedigt.
»Spielt weiter«, ermahnte er uns.
Dann öffnete er die Saaltür. Herein kam ein schüchterner Junge mit länglichem Gesicht und einem langen, in die Augen hängenden Pony. Er schaute uns gar nicht an. Öffnete nur einen länglichen Kasten, den er bei sich hatte. Die Innenseite war mit rotem Samt ausgekleidet. Mit seinen langen Fingern zog er eine rotweiße Elektroplanke heraus, verband sie mit einem der Verstärker und drehte die Lautstärke hoch. Dann legte er ein Solo zu unserer Tonfolge hin, das uns fast das Herz aus dem Brustkorb riss, ein schreiendes Solo voller herzzerreißender Trauer. Es dröhnte, dass die Fensterscheiben zitterten. Das Geräusch war ganz anders, als wir es gewohnt waren, gebrochen, schneidend, jammernd. Wie ein verzweifelter Mensch. Mit einer kleinen Schachtel mischte er die Töne auf der Gitarre, dass das Aufheulen noch lauter wurde. Dann legte er ein Solo hin. Ein knisterndes, brüllendes Gitarrensolo, tierisch männlich, unfassbar, dass es von diesem mageren Dreizehnjährigen kam. Seine Finger flogen zwischen den Saiten hin und her, das Plektrum peitschte gewaltige Tonkaskaden hervor, die Ohren konnten gar nicht mehr folgen, nur das Herz, der Körper, die Haut. Zum Schluss tat er etwas, was ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er machte die Gitarre los und hielt sie an den Lautsprecher, und sofort fing sie an von allein zu spielen, schneidende Flüstertöne, Wolfsgeheul und Flöten, alles zugleich.
Dann lachte der Bursche. Weich, fast mädchenhaft. Er strich sich den Pony aus der Stirn und stellte den Strom ab. Sein Gesicht mit den eisblauen Augen sah sehr finnisch aus.
»Jimi Hendrix«, sagte er knapp.
Wir zogen die Gardinen auf. Gut zehn Schüler drückten ihre Nasen an der Fensterscheibe platt, dicht gedrängt, Schulter an Schulter. Der Lärm war in der ganzen Schule zu hören gewesen.
Greger sah uns verträumt an.
»So langsam klingt das nach was, Jungs! Übrigens, das ist Holgeri.«
Ich drehte mich zu Niila um und murmelte mit einer schaurigen Vorahnung:
»O Scheiße, wie sie den fertig machen werden.«
»Was?«, fragte Greger.
»Ach, nichts.«
In der Oberstufe brach das Mobbing ernsthaft aus. Die Pajala Centralskola war zu dieser Zeit ein schrecklicher Ort für jemanden, der sich von den anderen in irgendeiner Weise unterschied. Was man nicht glauben konnte, wenn man von außen kam. Eine spärlich besuchte Schule in einem ruhigen Ort. Nur gut ein paar hundert Schüler. Eine schweigsame Stimmung auf den Fluren, man konnte sie fast scheu nennen.
Die Wahrheit war jedoch, dass es gefährliche Schüler gab. Sie hatten bereits in der Mittelstufe angefangen zu wüten, aber erst jetzt entfalteten sie sich in ihrer ganzen Pracht. Vielleicht war das die Pubertät. Zu viel Geilheit, zu viel Angst.
Einige hatten ihr Vergnügen daran, in den verborgenen Ecken der Flure blaue Flecken zu stempeln, sie stießen mit ihren knochenharten Knien gegen Schenkel oder Pobacken. Die Weichteile. Wenn man sich umdrehte, fast kotzend vor Schmerz, standen sie nur grinsend da. Manchmal hatten sie auch Nähnadeln in der Hand versteckt und piksten mit denen durch Kleidung und Haut, wenn man vorbeiging. Üblich waren auch Schläge auf die Oberarmmuskeln, die dann noch Stunden später höllisch wehtaten.
Die Mobber nahmen Witterung auf. Sie konnten direkt riechen, wenn jemand anders war, sie pflückten die Sonderlinge, die Künstlerischen, die allzu Intelligenten heraus. Eines ihrer Opfer hieß Hans, ein schweigsamer Junge, der gern mit Mädchen zusammen war. Es gelang seinen Verfolgern, sein gesamtes Leben zu kontrollieren, ihn so in Angst und Schrecken zu versetzen, dass er sich nicht mehr
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