Populaermusik Aus Vittula
traute, allein einen Flur entlangzugehen. Er versuchte sich zwischen den Klassenkameraden zu verstecken, sich wie eine schwache Antilope in der Mitte der Herde zu halten. Erst viele Jahre später konnte er nach Stockholm ziehen und zu seiner Homosexualität stehen.
Ein anderes Opfer war Mikael. Auch er war schüchtern und introvertiert, nicht in der Lage zurückzuschlagen. Er war anders, das war zu spüren, er war in seinem innersten Inneren fest davon überzeugt, dass er jemand war. Bei einer Gelegenheit umkreiste ihn die Bande in der Metallwerkstatt, als der Lehrer nicht im Raum war. Mit Uffe, dem Sadisten der Klasse an der Spitze, begannen sie Würgegriffe an Mikael zu üben. Uffe drückte ihm langsam seine Snusfinger immer fester um den Hals, bis der Junge wie eine Kröte quakte. Die Klassenkameraden standen dabei und sahen zu, aber keiner protestierte. Stattdessen betrachtete man das Ganze eher neugierig. Sah es so aus, wenn man erwürgt wurde? Guckt nur, wie seine Augen hervortreten! Bald wollten auch andere Jungs es versuchen. Sie mussten ihr Opfer nicht einmal festhalten, es saß gelähmt vor Angst wehrlos da. Guckt mal, gleich kotzt er, am besten, man lässt los. Sonst noch jemand? Versucht es ruhig. Guckt mal das Zäpfchen, was für eine Angst er hat! Drück da, weiter unten, da wirkt es besser. Hust, hust, uuhhhuuäähh ... Versuch du es doch auch mal, er traut sich sowieso nicht zu petzen! Da ist sein Hals, verdammt ist der dünn!
Die Lehrer ahnten wohl, was sich da auf den Fluren abspielte, trauten sich aber nicht einzugreifen. Mehreren von ihnen wurde selbst übel mitgespielt. Eine Lehrerin aus Südschweden wurde systematisch fertig gemacht und rannte immer wieder weinend aus den Unterrichtsräumen. Die Schüler verhöhnten sie lachend. Sobald sie sie sahen, weigerten sie sich, ihre Arbeitsbögen auszufüllen, versteckten ihre Bücher, kamen mit sexuellen
Anspielungen, da sie unverheiratet war, legten ihr Pornobilder in die Tasche und Ähnliches. Immer mehr Schüler machten mit, als sie sahen, dass es funktionierte. Ganz normale Jungs und Mädchen. Klassenkameraden. So aufgeregt, dass sie innerlich zitterten. Es kam schon vor, dass die Luft im Klassenzimmer nicht mehr zu atmen war.
Sobald ich Holgeris Solo gehört hatte, war mir klar, dass es schlecht um ihn stand. Er gehörte genau zu der Spezies, die sich die Mobber heraussuchten, schwache Jungs, die sich zu sehr hervortaten. Ich hatte ihn schon vorher in den Schulfluren gesehen, aber nicht ernsthaft wahrgenommen. Er war ausweichend, aber nicht unfreundlich. Einer dieser vielen schweigsamen Schüler aus der Provinz, die am liebsten für sich blieben, die in kleinen Grüppchen in der Flurecke standen und sich murmelnd auf Finnisch unterhielten. Sie fühlten sich in der Kreisstadt Pajala nie zu Hause. Holgeri erzählte mir, wie schwer es jedes Mal in den ersten Wochen nach den Sommerferien war. Den ganzen langen Sommer über hatte er Finnisch gesprochen, und plötzlich musste sich sein Gehirn auf Schwedisch umstellen. Das dauerte ein paar Wochen, ihm fielen bestimmte Worte nicht ein, er machte Fehler, deshalb war es am besten, ganz zu schweigen.
Holgeri kam aus Kihlanki, und wir unterhielten uns immer mal wieder, während wir auf den Schulbus warteten. Meistens redeten wir über Musik. Ich wollte wissen, wo er Gitarre spielen gelernt hatte, und er erzählte, das hätte er bei seinem Vater gelernt. Dieser war seit einigen Jahren tot, was genau passiert war, wollte Holgeri mir nie erzählen. Aber woran er sich am deutlichsten aus seiner Kindheit erinnerte, das waren die Stunden, in denen er auf dem Schoß seines Vaters saß, während dieser Liikavaaralieder spielte und mit ungenierter Stimme in dem euphorischen Stadium des Rausches sang, wie er sich den Speichel aus dem Schnurrbart wischte, den er immer mit der
Nagelschere stutzte, und dann dem Sohn einen Taler schenkte. Und als der Vater starb, hing die Gitarre da. Holgeri hatte sie heruntergenommen, vorsichtig an den Saiten gezupft und gemeint, die Stimme seines Vaters zu hören, irgendwo aus den tiefen Wäldern, in denen er sich nunmehr herumtrieb.
Die Mutter wurde aufgrund ihrer Nerven frühzeitig pensioniert, und der Sohn war alles, was sie noch hatte. Und als Holgeri sich eine Elektrogitarre mit Verstärker wünschte, bekam er sie, obwohl sie kaum genug für Schuhe und Kleider hatte.
Genau wie ich hatte er viel Zeit vor dem Radio verbracht. Mit selbst ausgedachtem Fingerspiel hatte er Soli
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