Port Vila Blues
kehrte De Lisle in sein Haus zurück, wo ihn oben, an der Treppe, seine vanuatuische Hausangestellte bereits erwartete, ein Silbertablett in der Hand. Genau in der Mitte des Tabletts hatte sie eine weiße Visitenkarte platziert. De Lisle hatte Grace eine Unzahl kleiner Rituale und höfliche Umgangsformen beigebracht. Heute starrte sie ihn an und er fühlte sich unbehaglich dabei. Seit zwei Jahren wich sie seinem Blick aus, so als wäre er ein fremder Gast in diesem Haus, nicht der Mann, der sie Nacht für Nacht in ihrem Zimmer im Dienstbotenflügel besuchte. Warum also jetzt dieses plötzliche Vertrauen?
De Lisle klappte die Karte auf. Sie war von Walter Erakor und enthielt nur einen Satz: »Treffen Sie mich um 17 Uhr in Ma Kincaid’s Eating House.«
De Lisle entließ Grace und machte sich einen Drink. Er fragte sich, was Erakor wolle. Walter war ein Dschungelaffe — auf der Insel geboren, Jurist und Absolvent der Sorbonne, aber nach wie vor ein Dschungelaffe. Wenn De Lisle in Vanuatu zu tun hatte, arbeitete er immer mit ihm zusammen, meist im Rahmen von Routinefällen am Bezirksgericht. Doch er nahm auch Walter Erakors Rat und Hilfe in Anspruch, wenn es darum ging, das Gesetz zu umgehen, weil man dafür nun mal jemanden bei der Justizbehörde brauchte, der klebrige Hände hatte. Erakor hatte De Lisle Zeit und Ärger erspart, indem er Holdinggesellschaften gegründet, Bankkonten eröffnet und Immobilienübertragungen getätigt hatte. Wollte der Mann jetzt ein größeres Stück vom Kuchen? De Lisle hasste es, mit Schwarzen verhandeln zu müssen. Er wünschte, er hätte vor der Unabhängigkeit in Vanuatu zu tun gehabt, als es im öffentlichen Dienst noch jede Menge anständiger Franzosen gegeben hatte.
De Lisle sah auf seine Armbanduhr: fast fünf. Zu spät, um die Juwelen der Asahi-Sammlung in einem Schließfach zu deponieren. Er verstaute den Koffer erst einmal im Safe seines Schlafzimmers und entschloss sich, zu Fuß zu gehen. Der Weg zu Ma Kincaid’s führt nur bergab, das war gut für die körperliche Ertüchtigung. Zurück konnte er ja ein Taxi nehmen.
Ein endloser Strom von Lieferwagen und miserabel aufgemotzten PKWs wälzte sich an ihm vorbei, die Port-Vila-Variante von Berufsverkehr. Unten angekommen, fühlte sich De Lisle bereits wesentlich sicherer. An der Tauchschule wurde die Straße ebener und schon bald konnte er über einen passablen Bürgersteig spazieren. Heute war Markttag. Am Parkplatz der Anlegestelle für die Inselfähre verkauften ein, zwei Händler Kaurimuscheln, Kokosnüsse und Kleider aus dünner, farbenfroher Baumwolle. Die meisten Geschäfte waren geschlossen, nur der vietnamesische Supermarkt hatte noch geöffnet. Die Besitzer waren Nachfahren vietnamesischer Plantagenarbeiter, die 1920 von französischen Plantagenbesitzern nach Vanuatu verfrachtet worden waren.
De Lisle schleppte sich durch die Schwüle des Spätnachmittags. Die Anzahl der Marktstände nahm zu, sie standen jetzt dicht an dicht auf dem Fußgängerweg. Niemand kaufte etwas, die Einzigen, die interessiert schienen, waren ältere Touristen von einem Kreuzfahrtschiff, das im Hafen festgemacht hatte. De Lisle sah, wie sie sich über gefärbte Korallen, Muschelketten und geschnitzte Tiere beugten. Er ging davon aus, dass sie etwas kauften. Im Allgemeinen taten sie es. Ungeachtet der Ratschläge in ihrem Reiseführer würden sie auch ein Trinkgeld geben. Und es gab Einheimische, die es annahmen, als hätten auch sie die Reiseführer nicht gelesen, in denen behauptet wurde, Einheimische fühlten sich beleidigt und seien peinlich berührt, wenn man ihnen Trinkgelder anbiete.
Bei Ma Kincaid’s war es kühl und das Licht gedämpft. Deckenventilatoren hielten die Luft in Bewegung; an der Bar hockten ein paar Touristen und Seeleute und an den Tischen saßen einige ortsansässige Europäer und aßen. De Lisle nickte dem einen oder anderen zu. Es waren Franzosen, die nach der Unabhängigkeit geblieben waren. Hinten, in der Ecke, saß eine Runde Segler, die Englisch miteinander sprachen. De Lisle lauschte: Neuseeländer und Australier, fünf Männer und eine Frau. De Lisle hätte wetten können, dass sie Dreck am Stecken hatten und sich hier verkrochen, vermutlich für ein paar Monate, um dann weiterzuziehen. Ein oder zwei könnten vielleicht für immer hier bleiben, eines dieser Import-Export-Unternehmen gründen, die einzig der Geldwäsche dienten oder dem Schmuggel von was auch immer, Kokosnuss-Seife, Waffen, Cannabis aus
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