Porträt eines Süchtigen als junger Mann
instinktgesteuert von einem Zustand in den anderen. Er zieht seine Socken an, reibt die Flecke von seinem Schuh und wischt sich noch einmal die Stirn. Als er seine Haare prüft und mit dem Mundwasser gurgelt, das er im Arzneischrank findet, klopft Fitz wiederholt an die Tür, ob alles in Ordnung ist.
Komme gleich
, ruft er mit einem letzten Blick in den Spiegel.
Er sucht sich auf der Lexington ein Taxi und hofft, dass Nell schon schläft. Es verblüfft ihn, wie sich das Zeiterleben verändert hat, so dass sechs Stunden ihm wie Minuten vorgekommen sind. Er hat Angst, er könnte etwas vergessen haben. Was, weiß er nicht genau – Brieftasche und Schlüssel sind da, die Krawatte steckt in seiner Blazertasche –, aber irgendetwas fehlt, da ist er sicher.
Das ist kurz vor oder kurz nach dem Abend, an dem er Noah kennenlernt. Mit Sicherheit ist es, bevor er Nell mitteilt, dass er sie verlassen muss; bevor er Noah seiner Mutter vorstellt, die ihm sagt, dass er Kim nichts davon sagen darf und niemandem aus der Familie, der es ihr erzählen könnte, weil sie am Ende sonst die Zwillinge verliert, mit denen sie seit kurzem schwanger ist. Bevor er Noah seinem Chef, seinen Freunden und den Autoren vorstellt, mit denen er arbeitet. Es ist, bevor Noah in seinen Kreisen bekannt wird, aber was zuerst war – der Abend, an dem er Noah kennenlernte, oder der Abend mit Fitz –, lässt sich nicht klären. Es war eine Zeit, in der alles nach einem Anfang aussah.
Familientreffen
Noah ist das Erste, was ich sehe, als ich im Maritime-Hotel aus dem Aufzug steige. Halb kauernd, bärtig, zittrig, ein Knie am Boden, scheint er lossprinten zu wollen und hält gleichzeitig schützend die Hände über sich, als fürchte er einen Angriff. Und da ist noch etwas – als fühlte er sich ertappt, als wäre
er
hier der Schuldige. Ich habe ihn seit dem Abend im Carlyle vor drei Tagen nicht gesehen.
Ich laufe an ihm vorbei zum Ausgang. Er ruft, und ich bleibe nicht stehen.
Von woanders her höre ich:
Billy!
Billy?
Niemand nennt mich Billy – nur meine Familie, Studienfreunde und Leute, mit denen ich aufgewachsen bin – und jetzt höre ich den Namen, als ob er mir über einen Küchentisch aus meiner Kindheit zugerufen wird.
Billy!
Es ist meine kleine Schwester Lisa. Ich sehe sie zwar nicht, erkenne jedoch ihre Stimme. Sie ist fünfundzwanzig, hat aber eine verrauchte, von Traurigkeit zerrüttete Stimme, die zu bekommen noch mal zwanzig Jahre hätte dauern sollen. Manche Leute macht so eine Stimme an.
Ich sehe mich auf dem Weg zum Ausgang in der Lobby um, und da sind sie. Mein Vater. Kim. Lisa. Meine Familie. Meine Familie ohne meine Mutter und meinen kleinen Bruder Sean. Ich kann nicht glauben, dass sie da sind. Mein Vater muss extra von New Hampshire gekommen sein, wo er allein in den Bergen wohnt, meine Schwester Kim aus Maine, wo sie mit ihrem Mann und den Zwillingen lebt; Lisa aus Boston.
Ich gehe einen Moment langsamer, um mich zu vergewissern, dass der kleine Mann in der leuchtend blauen Windjacke und den grauen New-Balance-Laufschuhen, der da in der schicken, schummerigen Lobby des Maritime steht, wirklich mein Vater ist. Er hat in den zwölf Jahren, die ich in New York lebe, noch nie einen Fuß auf die Insel Manhattan gesetzt. Noch kein einziges Mal hat er gesehen, wo ich wohne oder wo ich arbeite. Und auch Noah hat er bis jetzt nicht kennengelernt. Ich frage mich, ob ich Halluzinationen habe.
Komm schon, Willie
, stammelt der Mann mit starkem Bostoner Einschlag.
Er ist es. Sieht aus wie ein brutal seiner ländlichen Abgeschiedenheit entrissener J. D. Salinger, den man in die denkbar unwirtlichste Großstadtszenerie verfrachtet hat.
Ich mache, dass ich rauskomme. Als ich an der Tür bin, packt mich Lisa an der Jacke. Ich rieche ihr Parfum und Zigarettenrauch, schüttle sie ab und renne zur Ninth Avenue. Sie setzt mir nach und ruft, ich solle zurückkommen. Ein Taxi hält mit einem Ruck am Straßenrand. Ich steige ein, rufe:
Fahren Sie los!
, und Gott sei Dank tun wir das auch. Die Sonne blitzt aus dem Chrom und Glas des entgegenkommenden Verkehrs, und mit zusammengekniffenen Augen sehe ich, wie Lisa auf die Straße kommt, einem Taxi winkt, die Tür aufreißt, kaum dass es angehalten hat, und reinspringt.
Er solle das Taxi abhängen, rufe ich dem Fahrer zu und schäme mich für das schrecklich Trickfilmhafte der Situation. Die Szene scheint wie so viele, die ich
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