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Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Titel: Porträt eines Süchtigen als junger Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Clegg
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Drei oder vier Sitzungen lang wird mein Interesse an Männern erörtert, ehe wir auf meine Kindheitsfreunde – Kenny, Adam, Michael – zu sprechen kommen und die Frage, ob ich mich sexuell zu ihnen hingezogen gefühlt habe. Ich glaube nicht, und er möchte, dass ich mich zurückerinnere, ob ich ihre Pimmel gesehen habe und sie meinen. Irgendwann sage ich sachlich, dass meinen Pimmel wohl niemand gesehen hat. Als Dr. Dave mich darauf hinweist, dass ich nach eigener Aussage beim Fliegenfischen auf dem Housatonic River mehrmals den von Michael gesehen habe, antworte ich wiederum sachlich, dass ich nie in den Fluss gepinkelt habe, sondern dazu immer ans Ufer und in den Wald gegangen bin.
     
    Warum?
, fragt er.
     
    Das weiß ich nicht
, antworte ich.
     
    Haben Sie sich wegen Ihres Penis geschämt, oder war er Ihnen peinlich?
, fährt er fort.
     
    Nein, ich glaube nicht.
     
    Warum dann?
     
    Warum?
, fragt er noch einmal.
     
    Und da bin ich. Mit elf oder zwölf. Im Wald, hinter einem Gewirr von Zweigen fuhrwerke und hüpfe ich herum und bearbeite meinen Schwanz, als stände er in Flammen und ich müsste das Feuer löschen. Und mit dieser einen Erinnerung stellen sich zigtausend andere ein. Zuerst glaube ich nicht daran, aber da ist eine körperliche Empfindung, ein Wiedererkennen im Körpergedächtnis, das mich davon abhält, das Ganze als eine Fehlschaltung im Kopf abzutun.
     
    Dr. Dave und ich verbringen anderthalb Jahre damit, alles wieder heraufzuholen – die Toilette der Schulschwester, die blutbefleckte Unterwäsche, meinen Vater. Auf ihn verwenden wir viel Zeit. Was er gesagt hat, wie er es gesagt hat, wie mir dabei zumute war. Im Detail. Und als ich dann Noah kennenlerne und wir ein halbes Jahr später zusammenziehen, werde ich es leid, mich mit meinen Kindheitskämpfen zu beschäftigen, und lasse Dr. Dave sausen. Eines Tages gehe ich einfach nicht mehr hin. Er spricht mir zweimal auf den Anrufbeantworter, aber ich bezahle seine Rechnung und rufe ihn nicht zurück. Ich spreche mit niemandem über meine Erinnerungen, und nach einiger Zeit frage ich mich wieder, ob nicht alles doch nur phantasiert war. Schließlich verblasst es und verschwindet weitgehend aus meinen Gedanken.
     
    Jetzt, drei Jahre später, bin ich dreißig und habe den Job aufgegeben, den ich sieben Jahre lang hatte, meinen ersten und einzigen in New York, um mit einer Freundin zusammen eine Agentur zu gründen. Inzwischen habe ich Noah kennengelernt – an einem Abend, als Nell nicht in der Stadt ist und ich eine dieser Kontaktnummern anrufe. Er spaziert in meine Wohnung, und wortlos küssen wir uns. Wir reden die ganze Nacht. Er ist maskulin, aber auch albern und herzlich, und ich mache mich ein Jahr jünger, als ich bin, sage ihm, dass ich in Harvard war und dass mein Vater in der Marlborough Street in Boston aufgewachsen ist. Die ersten beiden Lügen berichtige ich, noch bevor es Morgen wird, doch die letzte lasse ich stehen. Mein Vater selbst wird Jahre später, als sie sich zum ersten und einzigen Mal begegnen, Noah sagen, dass er in Dedham, Massachusetts, aufgewachsen ist, einer Mittelstands-Schlafstadt vor den Toren Bostons.
     
    Wir erzählen allen, wir hätten uns in Brooklyn auf der Geburtstagsfeier eines meiner Klienten kennengelernt, der ein Schulfreund von Noah sei. Das ist unser erstes gemeinsames Geheimnis. Wir können es – und auch andere – lange Zeit wahren.
     
    Ich trinke zu viel, und ich kann nicht aufhören, Dealer anzurufen und bis in die Puppen herumzustreunen. Ich bin cracksüchtig und weiß es, auch Noah weiß es, aber für alle anderen bin ich ein zuverlässiger, anständiger Kerl mit einer vielversprechenden jungen Firma und einem tollen Freund. Wir sind in einer schönen Wohnung, die Noahs Großmutter bar bezahlt hat, und wir haben sie mit alten Fotos, antiken Möbeln und teuren Persern ausgestattet. Aus der Ferne gesehen ist es ein beneidenswertes Leben. Von Nahem betrachtet ist es das nur zum Teil: Ich liebe Noah, doch abgesehen von den drogenbedingten Treulosigkeiten habe ich zwei Affären gehabt – eine mit einem Mann, eine mit einer Frau. Ich bin fest überzeugt, dass Noah mir die ganze Beziehung hindurch treu gewesen ist. Wir sind stolz auf die Wohnung, die wir mit solcher Sorgfalt eingerichtet haben, aber wir nennen sie beide nicht unser Zuhause, sondern One Fifth.
     
    Und es ist, als gäbe es jede Woche ein Mittag- oder Abendessen oder einen Anruf, bei dem meine Tarnung auffliegen kann

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