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Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Titel: Porträt eines Süchtigen als junger Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Clegg
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war, was er gesagt hat und wie, und mir wird klar, dass wir niemals über
sie
gesprochen haben. Nicht ein einziges Mal.
Sie war eine von uns
, denke ich und spreche es vielleicht auch aus. Er war schrecklich zu ihr. Hat ihre Küche, ihre Kleider, ihre Intelligenz, ihre Interessen, ihre Freundinnen bemäkelt. Genau wie bei mir und Kim und etwas weniger bei Lisa und Sean. Von dieser gemeinsamen Erfahrung abgesehen bleibt meine Mutter blass. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mit mir über das Problem gesprochen hat. Es überhaupt nur angesprochen hat. Kein Wort des Trosts oder der Sorge. Bei Knochenbrüchen, ja. Bei fiesen Lehrern sowieso. Aber hier – Fehlanzeige. Ich sehe sie noch nicht mal vor mir bei diesen Abendessen, wenn wir Besuch hatten, wenn mein Vater im angeheiterten Zustand mit seinen Sticheleien und Drohungen anfing. Es ist, als hätte dieses Haus meiner Kindheit nur meinem Vater und mir gehört, und von den anderen hätte niemand mitbekommen, was vor sich ging, obwohl alle dabei waren. Mit einem Mal bin ich sehr müde.
     
    Etwa ein halbes Jahr später sagt meine Mutter mir am Telefon, dass die Röntgenaufnahme ihrer Brust gar nicht gut aussieht, dass der Krebs zurückgekommen ist und sie zu weiteren Untersuchungen nach Boston muss. In den Monaten zuvor habe ich sie nur selten angerufen. Die Sitzungen mit Gary sind so, als würden alle Fotos meiner Mutter aus dem Familienalbum entfernt und durch Bilder von jemandem ersetzt, der ihr zwar ähnlich sieht, aber eindeutig jemand anders ist, jemand, den ich jetzt erst langsam wahrnehme. Es verletzt und verwirrt sie, dass ich selten von mir hören lasse, da wir früher mehrmals die Woche miteinander gesprochen haben. Sie beschwert sich bei Kim, und Kim fragt mich, was los ist. Ich sage ihr, ich hätte unglaublich viel Arbeit.
     
    Nach dem Anruf wegen der schlimmen Mammographie melde ich mich öfter. Es dauert ein paar Wochen, aber dann geht mir auf, wie ernst die Sache ist. Bald soll sie operiert werden, und die Ärzte sagen uns, der Krebs sei wohl kaum vollständig zu entfernen, aber das Risiko, dass er wiederkomme, bestünde selbst dann noch, auch nach einer anschließenden aggressiven Chemotherapie.
     
    Kim und ich gehen die Finanzen unserer Mutter durch. Die Kreditkartenrechnungen stapeln sich, und sie arbeitet noch den Berg von Anwaltsgebühren aus der ein paar Jahre zurückliegenden Scheidung von meinem Vater ab. Es ist eine langwierige, schmutzige Scheidung gewesen, und einmal bittet sie mich, mit dem Flugzeug nach New Hampshire zu kommen, wo sie wohnen, und vor Gericht als Zeuge für sie auszusagen, um eine einstweilige Verfügung gegen meinen Vater aufrechtzuerhalten. Ich fliege hoch, obwohl mir der Richter vorab sagt, es sei nicht nötig, er würde die einstweilige Verfügung ohnehin aufrecht halten. Darüber bin ich erleichtert, schäme mich aber trotzdem, als ich in der Lobby des Gerichts kurz meinen Vater sehe und wir kein Wort wechseln.
     
    Die Versicherung zahlt weitgehend die Behandlung meiner Mutter, doch die Nebenkosten summieren sich, und sie kann die anstehenden Aufträge für Porträts und Wandgemälde, von denen sie lebt, nicht ausführen; erst lange nach der Operation wird sie dazu wieder in der Lage sein. Wir besprechen ernstlich, was finanziell auf uns zukommt, und ich tue so, als ob ich dem gelassen entgegensehe, weil inzwischen Geld in die Agentur fließt. Meine Familie betrachtet mich als gemachten Mann, und das Bild will ich nicht trüben. Kim sagt mir, dass ich nach dem Willen unserer Mutter ihr Testamentvollstrecker sein soll und dass entsprechende Papiere zu unterschreiben sind.
Sie kommt vielleicht nicht durch
, sagt Kim, und die Worte bleiben so im Raum stehen.
     
    Frühjahr 2001. Im Mai wird meine Mutter operiert, und ich fliege hoch. Kim ist schon die ganze Woche da, bei meiner kleinen Schwester Lisa, die in der Nähe wohnt. Sean ist jetzt neunzehn und streift mürrisch durch die Gänge und Räume der Klinik. Die Operation gelingt, und als wir zu unserer Mutter hineindürfen, scheint sie nur noch halb so groß und halb so schwer zu sein wie sonst – dürr und geschwächt versinkt sie in dem Klinikhemd, das ihr von den Schultern fällt. Ich habe sie seit Monaten nicht gesehen. Beim Sprechen tränen ihr die Augen, und es ist, als ob es ihr zu schwer fällt, die Worte zu formen und in die Welt zu entlassen. Als ich hinaus auf den Gang gehe und Noah anrufe, kann ich nicht mehr, breche zusammen und heule Rotz und

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