Porträt eines Süchtigen als junger Mann
Wasser. Die Agentur, die langen Nächte, die Geldsorgen, das Gefühl, das Leben, das ich mir aufgebaut habe, nicht halten zu können – und jetzt plötzlich auch noch meine Mutter, mit der ich im letzten halben Jahr immer nur ein paar Minuten zwischendurch geredet habe und die aussieht, als ob sie stirbt: Alles habe ich vermasselt, und ich werde es nicht hinbiegen können. Über die schlechte Telefonverbindung sagt mir Noah, ich solle mir keine Sorgen machen, es werde alles wieder gut. Schließlich höre ich auf zu weinen, und als wir uns verabschieden, habe ich das Gefühl, er ist sehr weit weg.
Wir sitzen im Krankenzimmer bei meiner schlafenden Mutter und unterhalten uns leise, während die Schwestern kommen und gehen und mit den Schläuchen und Instrumenten um sie herum hantieren. Ihr Arzt, ein großer, dunkelhaariger Mann in den Vierzigern mit ausgeprägtem Bartschatten, sagt uns, bei der Rekonstruktion habe es Komplikationen gegeben, da müssten sie in ein paar Tagen noch einmal nachschauen, aber die Entfernung des Krebses und der Lymphknoten sei sehr gut gelaufen. Ich mache mir bewusst, dass dieser Mann den ganzen Tag vor meiner Mutter gestanden und ihr Leben in den Händen gehalten hat. Mein Job, die Agentur, all meine Sorgen schmelzen neben diesem Superhelden dahin, und nicht zum ersten Mal an diesem Tag schäme ich mich.
Der Tag in der Klinik verstreicht, und irgendwann raschelt es an der Tür und wie durch Zauberei steht Noah da, lächelnd, mit Taschen voller Lebensmittel von Dean & Deluca. Nach unserem Telefongespräch hat er einen Flug gebucht und ist so schnell er konnte hergekommen. Es ist, als wäre der Boden der Welt, der mir beim Betreten der Klinik unter den Füßen weggerutscht ist, plötzlich wieder da. Noah nimmt mich in die Arme, und ich drücke mich an ihn, so lange es geht.
Meine Mutter kehrt in ihr kleines neues Haus in Connecticut zurück, das sie nach der Scheidung gekauft hat und das in einem kleinen Nachbarort des Örtchens, in dem ich aufgewachsen bin, auf einer Wiese steht. Ihre zahlreichen Freunde fahren sie zu ihren Chemo- und Bestrahlungsterminen, nach Boston und zurück, wenn sie dort zu ihren Ärzten muss, bringen ihr monatelang Essen rund um die Uhr, füttern ihren Hund, und langsam, ganz langsam verwandelt sich das blasse, wunde Wesen, das wir im Klinikbett gesehen haben, wieder in eine gesunde, pausbäckige Frau. Ihre Haare wachsen nach, dünner als zuvor, aber als sie nach fünf Jahren dann, wie die Ärzte sagen,
aus dem Schneider
ist, sieht man ihr nicht mehr an, wie knapp sie dem Tod entronnen ist. Im ersten Jahr ihrer Genesung sehen und sprechen wir uns oft. Mit meiner geläuterten, verletzlichen Mutter fühle ich mich wohl, und wir gehen ähnlich miteinander um wie in meiner Teenagerzeit und noch danach – aufmerksam, einfühlsam, ermutigend. Als sie dann gesünder wird und ihr Leben wieder aufnimmt, rufe ich immer seltener an, beschränke meine Besuche auf Weihnachten und drifte wieder davon.
Wo
Herrentoilette in der Metro-North-Station White Plains (hastige Hände, die am Pissoir von einem Reißverschluss zum anderen gehen, dann die Kabine, ein hastiger Mund auf mir, bis es plötzlich, zum ersten Mal mit einem Mann, vorbei ist).
Rons Zimmer, drei Blocks entfernt von meiner ersten New Yorker Wohnung, zweimal.
Am Telefon, im Dunkeln. Nell unterwegs. So viele Stimmen, so viel Verlangen.
Apartment hoch überm Zentrum, nach einer langen durchzechten, durchtanzten, durchkifften Nacht, mit einem Autor, den mein Chef vertritt. Und seinem Freund. Gewirr von Körpern und rasches Verschwinden, bevor sie aufwachen. Zum ersten Mal in jenem Winter schneit es.
Dampfbad im Fitness-Center in der 57th Street. Männer mittleren Alters. Ängstlich, ernst, matt beschlagene Eheringe an den Fingern.
Toilette in einem Zug der Metro North. Ein schöner junger Mann, älter als ich, aber nicht über 25, hat auf der anderen Seite des Gangs gesessen und winkt mir, ihm zu folgen, als er zum Ende des Wagens geht. Küsse. Nur Küsse und freundliche Hände, die mir über die Schläfen und das Gesicht streichen.
Es wird alles gut
, flüstert er, bevor er die Tür aufzieht und in einem anderen Wagen verschwindet. Woher wusste er, dass ich da meine Zweifel hatte?
Liebe
Eine Erinnerung außer der Reihe. Es ist meine vierte Nacht im 60 Thompson. Der vierte Abend, seit ich nach dem Kurzbesuch im Silver und der Flucht ins Courtyard Marriott in Norwalk,
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