Porträt eines Süchtigen als junger Mann
Hotelübernachtungen mehr für Noah. Die unschönen Einzelheiten der vergangenen Nacht flirren mir wie immer durch den Kopf. Crack schärft zumindest bei mir das Erinnerungsvermögen, statt Erinnerungen auszulöschen. Nie wache ich morgens auf und vergesse, was ich in der Nacht getan habe.
Von der an Fahrt gewinnenden Stromausfallkrise um mich herum bemerke ich kaum etwas – mich beschäftigt eher, wie ich mich ausgeruht und zärtlich geben soll, wenn ich Noah wiedersehe. Während die Herden verstörter Fußgänger mitten durch die Fifth Avenue ziehen, sorge ich mich, wie ich ihm klarmachen soll, dass nun endlich Schluss ist mit den vergeudeten Nächten, von denen es unzählig viele gegeben hat. Ich glaube daran. Auch wenn die Erinnerung an jeden einzelnen Morgen dieser Art in den letzten drei Jahren – und die Erinnerung an die gleichbleibende Überzeugung, nun sei wirklich Schluss damit – wie eine Kröte auf meinem guten Vorsatz hockt, bin ich wieder überzeugt, dass es diesmal anders läuft. Dass der zähe alte Trott durchbrochen wird.
Wenn der Strom bis zum Abend wieder da ist, gehen wir ins Knickerbocker. Ich werde nichts trinken. Oder doch, aber nur Wein. Ein Gläschen. Vielleicht zwei. Der Stromausfall und das daraus folgende Chaos als Gesprächsthema werden uns vom Albtraum der vergangenen Nacht ablenken. Sollte es losgehen mit
Wie packen wir das an?
oder
Du brauchst Hilfe
, drohe ich ihm, zu gehen. Nach ein paar Takten eisigen Schweigens werden wir über die krebskranke Kellnerin reden, wie tapfer sie ist, wie sie schuftet, wie toll die selbstgenähten Sachen sind, die sie auf der Arbeit trägt. Ich beobachte, wie sie sich mit Tabletts voller Steaks und Getränke durch das Gedränge schiebt, und überlege, ob sich Noah wohl veranlasst fühlt, wieder von Entzug, Möglichkeiten ambulanter Behandlung und AA zu faseln, wenn ich ein drittes Glas bestelle. Die Kellnerin bringt uns die Burger mit Fritten, und ich frage mich ernstlich, wie viel ich jetzt trinken kann, ohne dass es Theater gibt. Nur das beschäftigt mich –
noch einen
–, während sie von ihrer Chemotherapie, der Erschöpfung, dem Sodbrennen und ihrem Haarausfall erzählt.
Sie sind großartig
, sage ich, tippe an das Glas, bitte mit einem kurzen Nicken um Nachschub und weiche Noahs bösem Blick von der anderen Tischseite aus. Dann lasse ich es darauf ankommen und sage,
Ach nein, bringen Sie mir einen Wodka.
Ohne ihn anzusehen, springe ich auf und gehe zur Toilette, frage mich allerdings, ob er noch da ist, wenn ich wiederkomme. Aber er bleibt immer, und dann weint er. Er bittet mich weiterhin, das Trinken aufzugeben und mich behandeln zu lassen, ich drohe ihm weiter, zu gehen – aus dem Restaurant, aus seinem Leben zu verschwinden. Schließlich wird es still bis auf den Dinnerbetrieb um uns herum, in der Ecke ein TV -Star mit ihrem Mann, im Nebenzimmer ein Verlagsmensch, an der Theke ein paar bechernde Stammgäste. Das sind unsere Abende im Knickerbocker. Zig Abende. Aber an diesem Abend, dem Abend des Stromausfalls, soll es anders werden.
Im Meer der durch die Straßen wogenden Leute plötzlich Noah. Er läuft die Fifth Avenue hoch und sieht mich im selben Augenblick wie ich ihn. Zum Glück sind mein Assistent und unsere Lizenzfrau bei mir, denn ich möchte nicht mit ihm allein sein. Ich brauche ihm nicht erst ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, dass er wütend ist. Er grüßt die beiden gerade mal und sagt zu mir:
Komm mit
. Seine Großmutter ist in ihrem Apartment im sechzehnten Stock des Sherry Netherland, und wir müssen zu ihr.
Sofort
.
Ich sage ihm, dass ich später dorthin komme, und er antwortet mir vor meinen Kollegen:
Nein, du kommst jetzt mit
. Ich sage:
Beruhige dich
, und er antwortet, dass er sich beruhigt, wenn ich mit ihm mitkomme. Statt eine Szene zu machen, verabschiede ich mich von meinen Kollegen, mache kehrt und gehe die Fifth wieder hinauf in Richtung Sherry. Fast den ganzen Weg, von der 14th Street bis zur 57th, laufe ich vor ihm her. Die Stadt ist ein Chaos, und wegen 9/11 herrscht der Eindruck, dass etwas Schlimmeres als bloß ein Stromausfall im Gang ist. Gerüchte von Atomkraftwerke sprengenden Terroristen flittern durch die Straßen. Die Luft ist unheilschwanger.
Nicht weit vom Sherry sehen wir ein Feinkostgeschäft. Ein ganz Schickes für die Leute, die nördlich der 57th und südlich der 60th Street zwischen Fifth und Madison wohnen. Sie haben Wein und sogar ein Gerät, das ihn
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