Porträt eines Süchtigen als junger Mann
er,
keine Sorge
. Ich stutze einen Moment, und als ich nachhake, beschwichtigt er mich wieder, es sei nichts dabei, reine Routine.
Wir fahren nach Cambridge. Noah und ich lesen, schauen Filme im Brattle, trinken kannenweise Kaffee und sehen uns Harvard mit den tollen Häusern rings um die Universität an. Wie wir das immer tun. Eines Morgens ruft dann ein Kollege von Robert an und sagt, Robert sei tot, im Krankenhaus habe sich herausgestellt, dass er eine Lungenentzündung hatte.
Ich hatte Robert seit vier oder fünf Jahren gekannt, ihn alle zwei, drei Monate gesehen und mich regelmäßig mit ihm am Telefon unterhalten, aber ich kann nicht sagen, wir hätten uns nahegestanden. Er gehörte zu meiner Arbeitswelt, war entschieden ein Lichtblick darin. Sein Kampf mit dem Lymphom ging, so viel ich weiß, über einige Jahre. Näheres hat er zumindest mir nie darüber erzählt. Eine Zeitlang nahm ihn die Behandlung sehr mit, so dass er sich mehrere Monate krank schreiben ließ, doch die Remission gab Hoffnung. Er flog nach Europa, um in die Oper zu gehen, und stürzte sich wieder in die Verlagsarbeit. Zurück ins normale Leben.
Ich lege auf, und nach ein paar Augenblicken der Sprachlosigkeit fange ich an zu schluchzen. Ich weine tagelang und kann nicht aufhören. Beim Essen, bei Spaziergängen um Cambridge, unter der Dusche, im Fitness Center. Ich weine hemmungslos. So habe ich zuletzt vor drei oder vier Monaten im Krankenhaus bei meiner Mutter geweint. Schließlich versiegen die Tränen, aber das Bewusstsein, dass ich Robert nie wieder sehen oder hören werde, setzt sich tief in mir fest und geht nicht weg.
Wir kommen am Labor-Day-Wochenende nach New York zurück. Am 10. September soll im University Club ein Gedenkgottesdienst für Robert stattfinden. Am 9. kommt ein Autor aus Chicago, den ich vertrete, deshalb nach New York. Robert hat seinen Roman lektoriert und gepriesen, der demnächst erscheinen soll. Wir besuchen den Gedenkgottesdienst, und Roberts Autoren erzählen uns, wie hervorragend er ihre Arbeiten lektoriert hat. Wie er sich um sie gekümmert hat. Wie lustig es mit ihm war. Bei ihren Worten fühle ich mich einsam, allein. Wir gehen ins L’acajou, und ich fange sofort an zu trinken. Ein Glas nach dem anderen schütte ich wie Wasser hinunter, und mir kribbelt das Gesicht von zu viel Alkohol im Blut. Ich entschuldige mich, gehe zur Toilette und rufe Julio an, er soll seinen Dealer anrufen und ihm sagen, dass ich gleich mit Kohle vorbeikomme. Nachdem ich dann die Rechnung bezahlt habe, verabschiede ich mich, nehme mir ein Taxi, renne in Julios Apartmenthaus und rege mich darüber auf, wie gemächlich sich der Aufzug seinem Stockwerk nähert.
Diese Nacht vergeht blitzschnell. Ich komme irgendwann vor acht nach Hause, aber erst, nachdem Noah schon weg ist. Auf dem Tresen liegt kein Zettel. Dunkel erinnere ich mich, dass ein ausländischer Verleger – Deutschland? Holland? Ich weiß nicht mehr – sich angekündigt hat. Ich dusche, ziehe mich an und gehe die Fifth Avenue entlang zur Agentur. Mir brummt der Schädel vom vielen Wodka in der Nacht, und der Himmel erstrahlt in dem ungewöhnlichsten wolkenlosen Blau, das ich je gesehen habe. Oberhalb der 14th Street sehe ich einen jungen Lektor, den ich kenne, in schneeweißem Hemd über die Fifth Avenue laufen. Ich frage mich, warum er es so eilig hat.
Als ich in die Agentur komme, sind alle da. Genau in dem Moment ruft ein Freund an und sagt, das World Trade Center sei angegriffen worden. Fast sofort bricht Hysterie aus im Büro, in den anderen Büros auf unserer Etage, Telefone schrillen, und auf einem Bild auf CNN .com sieht man, wie Rauch aus einem der Zwillingstürme quillt. Die Mall von Washington in Flammen, Kampfflieger über der Stadt, das Pentagon in die Luft gejagt – die Gerüchte eskalieren, Chaos und Angst greifen um sich. Noah ruft an. Er weint. Er fragt, ob es mir gut geht, verliert kein Wort über die Nacht zuvor und sagt, dass er vom Fenster seines Büros in SoHo auf die Zwillingstürme schaut. Wir verabreden uns für später in der Wohnung.
Plötzlich fällt mir wieder ein, dass ich keinen Verleger erwarte, sondern einen Termin bei Seth, meinem Friseur, habe. Ich rufe an, um zu sehen, ob er geöffnet hat. Er sagt, ich soll vorbeikommen. Meine Haare sind struppig, und ich glaube, an meinen blutunterlaufenen Augen und der käsigen Haut sieht man deutlicher als sonst, dass ich die Nacht durchgemacht habe. Mir die
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