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Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Titel: Porträt eines Süchtigen als junger Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Clegg
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weiß nicht mehr, aus welchem Anlass und mit wem, aber einiges ist sicher. Ich bin im L’acajou. Ich trinke Wodka. Die Kellner und Kellnerinnen schenken mir den ganzen Abend nach. Mich erfüllt eine angenehme Ruhe, die mit jedem Glas zunimmt, und das Konzert der üblichen Sorgen verstummt allmählich. Nach einer kurzen Phase der Stille steigen dann andere Klänge aus der Tiefe auf. Bewegte Streicher. Laute Hörner. Die elende, nagende Gier, die sich als Bedürfnis aufführt. Während ich rede, zuhöre, esse und lache, schwenke ich den Taktstock, befehle den Instrumenten zu schweigen. Da ich dabei jedoch weitertrinke, schwillt die Musik wieder an, wird drängender, und ich entschuldige mich, gehe zur Toilette und wähle eine Nummer. Die von Mark diesmal, und ich mache mit ihm aus, dass ich nach dem Essen zu ihm komme. Einen Moment lang habe ich Bedenken, weil in zwei Tagen der Lunch für die Autorin des Augenzwinkernden Wunders ist und ich dafür in Topform sein muss. Aber es sind zwei volle Tage, sage ich mir. Selbst wenn ich die Nacht größtenteils durchmache, bleiben mir noch vierundzwanzig Stunden, um wieder Fuß zu fassen.
     
    Ich gehe zu Mark, und es folgt ein Tanz aus Rauch und Haut und anderen Leuten, und am Morgen will ich dann nicht, dass es aufhört. Der Lunch findet zwar am nächsten Tag statt, aber das kommt mir immer noch weit weg vor. Ein ganzer Tag, eine Nacht und ein Morgen noch. Es wird schon klappen. Es klappt doch immer. Nur dass diese Nacht die erste ist, die zwei sein möchte. Warum sie und nicht die anderen? Ich sehe mir den Terminkalender von damals an, und er ist mit Tintengraffiti übersät. Treffen zum Mittagessen, zum Kaffee, Telefontermine, Trinktermine, Trips nach London, LA , Frankfurt. Hochzeiten, Geburtstage, Benefize, Theater, Oper, Bücherpartys, Filmvorführungen. So vieles, wo man hin musste, sich tarnen musste, so viel Stress. Nie werde ich so in Anspruch genommen wie in jenem Jahr, zwischen meinem zweiunddreißigsten und dreiunddreißigsten Geburtstag. Dem sonnenstichigen Start ins Jesusjahr. Irgendjemand – Marie? – meinte im Scherz immer, dreiunddreißig sei das Jesusjahr, mit dem ein Leben endet und ein neues beginnt, mit dem die Jugend zu Ende geht und man unbestreitbar ins Erwachsenenalter eintritt. Aber als sie dreiunddreißig wurde, war ich vierundzwanzig und das Erwachsensein eine andere Welt.
     
    Warum wurden ausgerechnet aus dieser Nacht drei? Warum empfand ich alles, was für jeden anderen und auch mich selbst nach beneidenswert glücklicher Fügung aussah, als Last? Es war das Jahr, in dem ich müde wurde, das Jahr, in dem ich anfing, aufzugeben. In dem der Taktstock zerbrach und die Töne aus dem Orchesterraum den Dirigenten niederwarfen und das Haus überfluteten.
     
    Ich gehe gegen Mittag bei Mark weg und nehme mir ein Zimmer in einem kleinen Hotel in der Nähe der Agentur. Es ist ein billiges Touristenhotel, eine bessere Absteige, und ich gehe dahin, weil es mir bei Mark zu dreckig, zu verqualmt, zu heikel ist. Die flatterige Paranoia, die ich von den meisten mir bekannten Crackrauchern kenne, hat mich an den letzten drei oder vier Crackabenden auch erfasst. Diesmal ist es besonders schlimm und hält besonders lange an. Bei Mark stehe ich am Fenster um meine Zivilfahrzeuge der Polizei vor seinem Apartmenthaus zu sehen. Am Morgen muss ich da raus. Ich hab Ricos Nummer und gehe davon aus, dass er am Nachmittag neu liefern kann. Das tut er auch, und ich bleibe die ganze Nacht auf, allein mit dem Kabelfernsehen und uralten schmuddeligen Folgen der
Robin Byrd Show
, in denen ungelenke Go-go-Boys und -Girls strippen und sich von Robin oral befriedigen lassen. Danach bleibe ich die ganze Nacht bei dem Sender. Sie bringen Billigwerbung für teure 900er-Nummern, immer neue nackte und halbnackte Männer und Frauen, die mit Gerede von wildem Telefonsex die Kamera bezirzen. Das Hotelzimmer blickt auf eine enge Gasse, und ich beuge mich hinaus und sehe zu den Lichtvierecken der anderen Hotelzimmer hoch. Hin und wieder huscht der Schatten eines Mannes oder einer Frau über die Wand, und ich stelle mir tausend Szenarien vor. Manchmal hallt ein Geräusch – ein leiser Knall, ein gedämpftes Kratzen, ein Schlag, mit dem ein Fenster geschlossen wird – durch die Gasse, und ein paarmal rufe ich
Hallo
.
     
    Schnell ist es Morgen, und gegen zehn wird mir klar, dass ich nach Hause muss, um für den Lunch im La Grenouille meinen Anzug zu holen. Noah hat mir zig

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