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Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Titel: Porträt eines Süchtigen als junger Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Clegg
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der muskelbepackt mit verschränkten Armen neben mir steht und mich in grimmen Tönen anblafft, radiere ich instinktiv aus. Ich sehe ihn nicht an, rede nicht mit ihm, unterlasse jede Kommunikation mit ihm und erkläre mich nur unter der Bedingung, dass er uns nicht begleitet, bereit, mit zum Flughafen zu kommen. Abgemacht. Noah, Kate und ich steigen in den Wagen und fahren zum La Guardia. Es ist früher Nachmittag, und als wir zum Terminal kommen, sage ich, ich muss was essen, bestelle einen Teller Rührei und eine Flasche Weißwein, die ich dann leertrinke, wogegen ich das Essen kaum anrühre. Auf dem Flug nach Oregon trinke ich Wodka, während Noah und Kate stumm zusehen oder schlafen.
     
    Die Klinik ist eine Stunde von Portland entfernt und sieht nach einer kleinen Grundschule aus, die man mitten in hügeliges Weinbaugebiet gestellt hat. Es regnet kein einziges Mal, während ich dort bin, der Himmel ist dunkel, ein makelloses Blau, das sich später am Tag rosa und bei Sonnenuntergang scharlachrot färbt. Mein Zimmergenosse ist ein tablettensüchtiger Hirnchirurg aus Los Angeles, dessen bildhübsche schwedische Freundin mehrmals vorbeikommt und mit uns nach Portland oder an die Küste fährt. Auch andere sind da noch – der pensionierte Rettungswagenfahrer aus Washington State, der sich jeden Abend bis zur Besinnungslosigkeit betrunken und wochenlang kein Wort mit anderen Menschen gewechselt hat; der quasselige reiche Jüngling aus New York, der in einem goldenen Adidas-Trainingsanzug herumläuft und redet wie ein Gangster; der paranoide Meth-Freak aus dem San Fernando Valley, der seinen Keller mit Alufolie ausgelegt hat, um die Cops und die Bundespolizei zu überlisten, von denen er sich auf Schritt und Tritt verfolgt wusste. Mit allen komme ich klar. Am zweiten oder dritten Tag, nach x flehentlichen Anrufen bei Noah, Kate und meiner Schwester, sie möchten mich doch bitte zurück nach New York holen, finde ich mich damit ab, dass ich im Entzug bin, dass ich festsitze. Als ich erst mal aufhöre, nach Hause zu wollen, stelle ich mit Erstaunen fest, wie gut ich mich mit den Jungs verstehe, wie ähnlich wir uns sind, und wie toll es ist, endlich einmal ganz ehrlich sein zu können. Jeden Abend gehe ich allein auf einer schönen Wiese spazieren und schaue mir an, wie es dunkel wird und der Himmel sich mit rosa und roten Streifen überzieht. Ich gehe dort spazieren und habe Angst vor der Rückkehr nach New York, Angst, was die Leute denken, aber nach ein paar Wochen schöpfe ich Hoffnung.
     
    Ich erkläre mich freiwillig bereit, noch eine Woche länger zu bleiben – zum Teil, weil ich Noah und Kate zeigen möchte, dass es mir ernst ist, vor allem aber, weil ich nach vier Wochen ganz in der Gemeinschaft der Patienten und Berater aufgehe. Ich habe es nicht eilig damit, den Rahmen hier zu verlassen, der es mir erlaubt, die vielen Geheimnisse preiszugeben, die ich ein Leben lang unter den Teppich gekehrt habe, ohne dass ich sie deshalb losgeworden wäre oder sie mich weniger geplagt hätten.
     
    Eines Morgens spreche ich in der Gruppe zum ersten Mal seit den Sitzungen mit Dr. Dave über meine Schwierigkeiten beim Pinkeln. Nach der Gruppe sagt mir ein anderer Mann, ein Banker aus San Francisco mit vier Kindern, dass er als Kind mit demselben Problem zu kämpfen hatte. Zwei Tage vor dem Ende meines Aufenthalts schleicht er sich vom Klinikgelände, versackt im nächsten Stripclub beim Tequila und wird nach Hause geschickt.
     
    Als ich nach New York zurückkomme, ruft meine Mutter an, dass sie mich sehen will. Ich schiebe das fast einen Monat raus und willige schließlich ein, mit ihr essen zu gehen. Zu dem Lunch verspätet sie sich anderthalb Stunden. Als sie dann endlich kommt und wir bestellen, erzählt sie von den Generationen von Trinkern und Drogenabhängigen in ihrer Familie und der meines Vaters und sagt mir, dass ich zu einer langen Reihe gehöre. Anfangs habe ich mich zwar über ihre Verspätung aufgeregt, aber dann bin ich doch erstaunlich entspannt und merke, dass wieder etwas von unserer früheren Ungezwungenheit da ist. Ich frage, ob ich auf eine Sache aus meiner Kindheit zu sprechen kommen könne, etwas, über das ich noch mit keinem aus der Familie geredet hätte, das mir aber neulich eingefallen sei. Sie sagt ja, doch ehe ich das Wort pinkeln aussprechen kann, hebt sie die Hand und schüttelt den Kopf. Ich rede noch kurz weiter, aber jetzt weint sie und fragt mich, ob ich mich nur zum Essen mit ihr

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