Portrat in Sepia
glücklichen Erfahrungen mit Iván in dieser Nacht
stark genug war, die nötig war, um meinen Schutzwall zunichte
zu machen. Es geschah, daß ich nach dem Orgasmus, von den
festen Armen meines Geliebten umfaßt, plötzlich in Schluchzen
ausbrach, das mich durchschüttelte, wieder und wieder, bis eine
unhaltbare Flut angestauter Tränen mich fortriß. Ich weinte und
weinte, ausgeliefert, ganz dem Weinen hingegeben, sicher in
diesen Armen, wie ich es nie zuvor gewesen war. Ein Damm
brach in meinem Innern, und der alte Schmerz floß dahin wie
geschmolzener Schnee. Iván fragte nichts, noch versuchte er
mich zu trösten, er hielt mich nur fest an die Brust gedrückt und
ließ mich weinen, bis mir die Tränen versiegten, und als ich zu
einer Erklärung ansetzte, verschloß er mir den Mund mit einem
langen Kuß. Überdies hatte ich in diesem Augenblick gar keine
Erklärung, ich hätte eine erfinden müssen, aber heute weiß ich denn es ist seither mehrmals wieder passiert - : als ich mich so
ganz und gar in Sicherheit fühlte, beschirmt und beschützt, da
begann meine Erinnerung an die ersten fünf Jahre meines
Lebens wiederzukehren, die Jahre, die meine Großmutter
Paulina und alle übrigen mit dem Mantel des Schweigens
zugedeckt hatten. Als erstes sah ich hell aufblitzend das Gesicht
meines Großvaters Tao, der meinen chinesischen Namen
murmelte, Lai-Ming. Es war nur ein ganz kurzer Augenblick,
aber leuchtend wie der Mond. Dann erlebte ich wach wieder den
Albtraum, der mich seit jeher gequält hat, und da begriff ich,
daß es eine unmittelbare Verbindung zwischen meinem
angebeteten Großvater und diesen Teufeln in schwarzen
Pyjamas gibt. Die Hand, die mich in dem Traum losläßt, ist die
Hand Taos. Wer da langsam zu Boden sinkt, ist Tao. Der Fleck,
der sich unerbittlich auf dem Straßenpflaster ausbreitet, ist das
Blut Taos.
Ich lebte seit etwas über zwei Jahren offiziell bei Frederick
Williams, ging aber mehr und mehr auf in meiner Beziehung zu
Iván, ohne den ich mir mein Schicksal nicht mehr vorstellen
konnte, als meine Großmutter Eliza wieder in meinem Leben
erschien. Sie kehrte wohlbehalten zurück, immer noch nach
Karamel und Vanille duftend, unverwundbar gegenüber dem
Verschleiß durch Not oder Vergessen. Es waren siebzehn Jahre
vergangen, seit sie mich in Paulinas Haus zurückließ, in der
ganzen Zeit hatte ich nicht ein Foto von ihr gesehen, und ihr
Name war nur sehr selten in meiner Gegenwart erwähnt worden,
und trotzdem erkannte ich sie auf den ersten Blick. Ihr Bild war
verzahnt mit dem Räderwerk meiner Sehnsucht und hatte sich so
wenig verändert, daß, als sie sich mit dem Koffer in der Hand
auf unserer Schwelle materialisierte, mir war, als hätten wir uns
gerade am Tag zuvor voneinand er verabschiedet und als wäre
alles seither Geschehene reine Einbildung. Neu war allein, daß
sie kleiner war, als ich sie in Erinnerung hatte, aber das dürfte
daran gelegen haben, daß ich damals mit meinen fünf Jahren zu
ihr aufsehen mußte. Sie war immer noch straff wie ein Admiral,
hatte das gleiche jugendliche Gesicht und die gleiche strenge
Frisur, wenn sich jetzt auch weiße Strähnen durch das Haar
zogen. Sie trug auch immer noch die Perlenkette, die ich immer
an ihr gesehen hatte und die sie, wie ich jetzt weiß, nicht einmal
zum Schlafen abnahm. Severo begleitete sie, der diese ganzen
Jahre mit ihr in Kontakt geblieben war, aber mir nichts davon
gesagt hatte, weil sie es nicht erlaubte. Eliza hatte Paulina ihr
Wort gegeben, daß sie nie versuchen werde, mit ihrer Enkelin
Verbindung aufzunehmen, und hatte das getreulich befolgt, bis
Paulinas Tod sie von ihrem Versprechen befreite. Als Severo es
ihr mitteilte, packte sie ihre Koffer, verschloß ihr Haus, wie sie
es schon so viele Male getan hatte, und schiffte sich ein nach
Chile. Als sie 1885 in San Francisco Witwe wurde, unternahm
sie die Pilgerfahrt nach China mit dem einbalsamierten
Leichnam ihres Mannes, um ihn in Hongkong zu bestatten. Tao
Chi’en hatte den größten Teil seines Lebens in Kalifornien
verbracht und war einer der wenigen chinesischen Einwanderer,
die die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatten, aber er
hatte immer den Wunsch ausgesprochen, daß seine Gebeine in
chinesischer Erde ruhen sollten, damit seine Seele nicht in der
Unendlichkeit des Weltraums umherirren müsse, ohne die Tür
zum Himmel zu finden. Diese Vorsicht hat nicht ausgereicht,
denn ich bin sicher, daß
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