Portrat in Sepia
mühsam hoch, legten sich jeder
einen Arm des Bewußtlosen über den Nacken, und so
schleppten sie ihn fort wie einen Gekreuzigten, der Kopf hing
herab über dem kraftlosen Körper, die Füße schleiften über den
Boden aus gestampfter Erde. Sie kämpften sich den langen Weg
zurück über die schmalen Treppen, durch die engen Gänge, die
stickigen Räume, einen nach dem ändern, bis sie sich unverhofft
in der unglaublichen Reinheit der Nacht wiederfanden und
begierig und halb betäubt die frische Luft einsogen. Sie brachten
Matías so gut es ging in der Kutsche unter, und Williams fuhr
sie zur Garòonniere, dabei hatte Severo gedacht, der Angestellte
seiner Tante wisse gar nichts von ihrer Existenz. Er sah verdutzt,
wie Williams einen Schlüssel hervorzog, die Haustür aufschloß
und dann mit einem zweiten die Tür zum Dachgeschoß.
»Das ist doch nicht das erste Mal, daß Sie meinem Vetter aus
der Patsche helfen, stimmt’s, Williams?«
»Sagen wir, es wird nicht das letzte Mal sein«, erwiderte der.
Sie legten Matías auf das Bett, das hinter einem japanischen
Wandschirm in der Ecke stand, und Severo machte sich daran,
ihm Gesicht und Brust mit feuchten Tüchern abzuwischen und
ihn zu schütteln, damit er zurückkehrte aus dem Himmel, in dem
er sich niedergelassen hatte, während Williams ging, den Arzt
der Familie zu holen, nicht ohne vorher zu mahnen, es sei auch
weiterhin unangemessen, den Herrschaften mitzuteilen, was
geschehen war. »Aber mein Vetter kann sterben!« rief Severo,
immer noch zitternd vor Angst.
»In diesem Fall wird man es den Herrschaften sagen müssen«,
gab Williams höflich zu. Matías war fünf Tage lang
sterbenskrank, von Krämpfen geschüttelt, vergiftet bis ins Mark.
Williams holte einen Krankenpfleger ins Dachgeschoß und
wußte es einzurichten, daß die Abwesenheit des Sohnes keinen
Aufruhr im Haus hervorrief. Dieser Vorfall knüpfte ein
merkwürdiges Band zwischen Severo und Williams, schuf eine
stillschweigende Komplizenschaft, die sich niemals in Worten
oder Gesten äußerte. Bei einem anderen, weniger
verschlossenen Menschen, als es der Butler war, hätte Severo
geglaubt, zwischen ihnen gäbe es so etwas wie Freundschaft
oder wenigstens Sympathie, aber der Engländer hatte eine
undurchdringliche Mauer der Zurückhaltung um sich errichtet.
Severo begann ihn zu beobachten. Williams behandelte die
seiner Weisung unterstellten Bediensteten mit der gleichen so
kalten wie tadellosen Höflichkeit, die er seiner Herrschaft
zukommen ließ, und hielt sie damit in Schach. Nichts entging
seiner Aufmerksamkeit, weder das Schimmern der silbernen
Eßbestecke noch die Geheimnisse eines jeden, der in diesem
riesigen Hause lebte. Sein Alter zu schätzen oder seine Herkunft
zu erraten war unmöglich, er schien ein ewiger Vierziger zu
sein, und außer dem britischen Akzent gab es keinerlei Hinweise
auf seine Vergangenheit. Dreißigmal am Tag wechselte er seine
weißen Handschuhe, sein Anzug aus schwarzem Tuch sah
immer frisch gebügelt aus, sein schneeweißes Hemd aus bestem
holländischem Leinen war stets gestärkt, und die Schuhe
glänzten spiegelblank. Er lutschte Pfefferminzpastillen für den
Atem und betupfte sich mit Eau de Cologne, aber so diskret, daß
Severo nur ein einziges Mal den Duft nach Minze und Lavendel
wahrnahm, und das war in jener Opiumhöhle, als sich ihre
Gesichter streiften, während sie den ohnmächtigen Matías
hochhoben. Bei dieser Gelegenheit hatte er auch seine harten
Muskeln unter dem Jackett, die straffen Sehnen im Nacken und
seine Kraft und Geschmeidigkeit bemerkt, und nichts davon
wollte zu dem verarmten englischen Lord passen, als der dieser
Mann sich gab.
Die Vettern Severo und Matías hatten außer den
aristokratischen Gesichtszügen und der Vorliebe für den Sport
und für die Literatur nichts gemein, in allem übrigen schienen
sie nicht vom gleichen Blut zu sein; so ritterlich, tatenlustig und
arglos Severo war, so zynisch, träge und ausschweifend war
Matías, aber trotz ihrer gegensätzlichen Temperamente und
obwohl Jahre sie trennten, waren sie Freunde. Matías gab sich
die größte Mühe, Severo das Fechten beizubringen - nur fehlte
es dem an der Eleganz und Schnelligkeit, die für diese Kunst
unerläßlich sind -, er versuchte auch, ihn in die Freuden von San
Francisco einzuführen, aber der junge Mann erwies sich als
schlechter Gefährte bei feuchtfröhlichen Vergnügungen und
schlief einfach ein; er
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