Portrat in Sepia
werden sie
nicht weit kommen. Kannst du dir nicht zumindest ein
angenehmeres Thema suchen? Ein hübsche s Mädchen zum
Beispiel?«
Matías lachte auf und kündigte ihm an, kommenden Mittwoch
werde ein wahrhaft hübsches Mädchen in seine Garòonniere kommen, das schönste Mädchen von San Francisco nach
allgemeiner Beifallsbekundung, fügte er hinzu. Sie sei ein
Modell, um das seine Freunde sich prügelten, um sie in Ton
oder auf der Leinwand oder auf Fotografien unsterblich zu
machen, mit der zusätzlichen Hoffnung, sie ins Bett zu kriegen.
Wetten würden abgeschlossen, wer wohl der Erste sein werde,
aber bis jetzt sei es noch keinem geglückt, auch nur ihre Hand
zu berühren. »Sie leidet an einem gräßlichen Defekt, der
Tugend. Sie ist die einzige Jungfrau, die es in Kalifornien noch
gibt, dabei wäre das doch so leicht zu kurieren. Würdest du sie
gerne kennenlernen?«
So kam es, daß Severo Lynn Sommers wiedersah. Bis zu
diesem Tage hatte er sich darauf beschränkt, in den
Touristenläden heimlich Postkarten mit ihrem Bild zu kaufen
und sie zwischen den Seiten seiner Gesetzesbücher zu
verstecken wie einen Schatz, dessen man sich schämt. Viele
Male war er schon am Union Square um den Teesalon
herumgestrichen, um sie wenigstens von weitem zu sehen, er
hatte auch vorsichtig den Kutscher ausgehorcht, der täglich die
Näschereien für Tante Paulina holte, aber nie hatte er gewagt,
sich brav und wie es sich gehört vor Eliza Sommers hinzustellen
und sie um die Erlaubnis zu bitten, ihre Tochter besuchen zu
dürfen. Jede direkte Handlung erschien ihm als Verrat an Nivea,
seiner süßen Braut auf Lebenszeit, aber Lynn zufällig zu treffen
wäre etwas ganz anderes, entschied er, in dem Fall würde es ein
Schelmenstreich des Schicksals sein, und niemand würde ihm
einen Vorwur f machen können. Er hatte nicht die geringste
Ahnung, unter welch merkwürdigen Umständen er sie
ausgerechnet im Studio seines Vetters sehen würde.
Lynn Sommers war das geglückte Ergebnis vermischter
Rassen. Sie hätte eigentlich Lin Chi’en heißen sollen, aber ihre
Eltern beschlossen, die Namen ihrer Kinder zu anglisieren und
ihnen den Nachnamen ihrer Mutter zu geben, um ihnen das
Leben in den Vereinigten Staaten zu erleichtern, wo die
Chinesen wie Hunde behandelt wurden. Den Erstgeborenen
benannten sie Ebanizer, um einen alten Freund des Vaters zu
ehren, aber sie riefen ihn Lucky, weil der Junge mehr Glück
hatte, als man in Chinatown je gesehen hatte. Die Tochter, die
sechs Jahre später geboren wurde, hieß Lin zum Gedenken an
die erste Frau ihres Vaters, die vor vielen Jahren in Hongkong
beigesetzt worden war, aber amtlich eingetragen wurde sie als
Lynn. Tao Chi’ens erste Ehefrau, die dem Kind ihren Namen
vererbte, war ein zartes Geschöpf mit winzigen eingeschnürten
Füßen gewesen, das von ihrem Mann angebetet wurde und sehr
jung an Auszehrung starb. Eliza Sommers lernte mit der
beharrlichen Erinnerung an Lin zu leben und betrachtete sie
schließlich als Mitglied der Familie, eine unsichtbare
Beschützerin, die über das Wohlergehen ihrer Familie wachte.
Zwanzig Jahre zuvor, als sie entdeckte, daß sie wieder
schwanger war, hatte sie Lin um Hilfe gebeten, damit diese
Schwangerschaft gut ablief, denn sie hatte bereits mehrere
Fehlgeburten hinter sich und nicht mehr viel Hoffnung, daß ihr
ausgelaugter Körper das Ungeborene festhalten könne. So hatte
sie es Tao Chi’en erklärt, der seiner Frau bei jeder Gelegenheit
als zhong yi beistand und sie außerdem zu den besten in
westlicher Medizin praktizierenden Spezialisten Kaliforniens
brachte.
»Diesmal wird ein gesundes Mädche n zur Welt kommen«,
hatte sie ihm versichert. »Woher weißt du das?« hatte er gefragt.
»Weil ich Lin darum gebeten habe.« Eliza glaubte fest daran,
daß Taos erste Frau ihr während der Schwangerschaft zur Seite
gestanden, ihr Kraft gegeben habe, die Tochter zur Welt zu
bringen, um sich dann wie eine gute Fee über die Wiege zu
beugen und dem Kind die Gabe der Schönheit zu schenken. »Sie
wird Lin heißen«, erklärte die erschöpfte Mutter, als sie endlich
ihre Tochter im Arm hielt, aber Tao Chi’en erschrak: es war kein
guter Einfall, ihr den Namen einer so jung verstorbenen Frau zu
geben. Sie einigten sich schließlich darauf, die Schreibweise zu
ändern, um das Unheil nicht herauszufordern. »Gesprochen wird
es genauso, das ist das einzige, was zählt«, schloß Eliza.
Von ihrer Mutter hatte
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