Portrat in Sepia
Irgendwann ließen sie die Kutsche stehen und gingen zu Fuß
durch eine enge Passage, die in einen stockfinsteren Hinterhof
mündete, in dem ein seltsamer süßer Geruch wie nach
gerösteten Nüssen hing. Keine Menschenseele war zu sehen,
kein Geräusch außer dem Wind zu hören, und das einzige
bißchen Licht sickerte durch die Gitter zweier Fensterluken auf
Bodenhöhe. Williams entzündete ein Wachsstreichholz, las noch
einmal die Adresse auf dem Papier und stieß dann ohne
Umstände eine der Türen auf, die in das Gebäude führten.
Severo folgte ihm, die Hand an der Waffe. Sie traten in einen
kleinen Raum ohne Lüftung, aber sauber und ordentlich, wo
man des dichten Opiumgeruches wegen kaum atmen konnte.
Um einen Tisch in der Mitte standen an den Wänden aufgereiht
hölzerne Liegen, immer zwei übereinander wie Kojen auf einem
Schiff, jede mit einer Strohmatte und einem ausgehöhlten Stück
Holz als Kopfkissen. Sie waren von Chinesen besetzt,
manchmal mit zweien auf einmal, sie lehnten auf der Seite vor
kleinen Tabletts, auf denen jeweils eine Dose mit einer
schwarzen Paste und ein brennendes Lämpchen standen. Die
Nacht war schon ziemlich weit vorgeschritten, und die Droge
hatte auf die meisten ihre Wirkung getan; die Männer lagen
erschlafft, in ihren Träumen wandelnd, nur zwei oder drei hatten
noch die Kraft, einen kleinen Metallstab im Opium zu drehen, es
in der Lampe zu erhitzen, den winzigen Fingerhut der Pfeife zu
stopfen und durch ein Bambusröhrchen tief einzuatmen.
»Mein Gott!« murmelte Severo, der zwar schon davon gehört,
es aber noch nie von nahem gesehen hatte. »Besser als Alkohol,
wenn Sie mir die Bemerkung gestatten«, erwiderte Williams.
»Es führt nicht zur Gewalt und schadet keinem anderen, nur
dem, der raucht. Sehen Sie nur, wieviel sauberer und friedlicher
es hier ist als in einer Bar.«
Ein alter Chinese in Tunika und weiten Baumwollhosen
humpelte zu ihrer Begrüßung heran. Die roten Augen waren
zwischen den tiefen Falten im Gesicht kaum auszumachen, sein
Schnurrbart war so welk und grau wie der Zopf, der ihm schlaff
auf den Rücken hing, die Fingernägel außer an Daumen und
Zeigefinger waren so lang, daß sie sich zusammenrollten wie die
Schwänze einer frühzeitlichen Molluske, der Mund war ein
schwarzes Loch, und die wenigen verbliebenen Zähne waren
von Tabak und Opium verfärbt. Dieser Urgroßvater redete die
Neuankömmlinge auf chinesisch an, und zu Severos
Verblüffung antwortete ihm der englische Butler in derselben
Sprache, die sich bei ihm anhörte wie Hundegebell. Es gab eine
sehr lange Pause, in der sich keiner rührte. Der Chinese hielt den
Blick stier auf Williams gerichtet, als müsse er ihn überprüfen.
Endlich streckte er die Hand aus, in die Williams ihm mehrere
Dollarscheine legte, der Alte verwahrte sie unter der Tunika an
der Brust, ergriff einen Kerzenstumpf und winkte ihnen, ihm zu
folgen. Sie durchquerten einen zweiten Raum, einen dritten,
einen vierten, alle dem ersten gleich, gingen einen gewundenen
Flur entlang, stiegen eine kurze Treppe hinab und fanden sich in
einem weiteren Gang. Ihr Führer bedeutete ihnen zu warten und
verschwand für einige Minuten, die Severo endlos dünkten. Er
war schweißnaß und hielt den Finger auf dem Hahn der
geladenen Waffe, wachsam und ohne auch nur einen Laut zu
äußern. Endlich kehrte der Urgroßvater zurück und führte sie
durch ein Ganglabyrinth bis zu einer geschlossenen Tür, vor der
er stehenblieb und mit unerklärlicher Aufmerksamkeit darauf
starrte, als müßte er eine Landkarte entziffern, bis Williams ihm
noch ein paar weitere Dollars gab und er sie endlich öffnete. Sie
traten in einen Raum, der noch kleiner war als die anderen, noch
düsterer, noch verräucherter, noch bedrückender, denn er lag
unter Straßenniveau, aber sonst glich er den vorherigen. Auf den
Holzpritschen lehnten fünf weiße Amerikaner, vier Männer und
eine schon reifere, aber noch bildhübsche Frau, deren rotes Haar
sich in einer Kaskade um sie herum ausbreitete wie ein
aufreizender Umhang. Der guten Kleidung nach handelte es sich
um zahlungskräftige Leute. Alle waren im gleichen Stadium
seliger Entrückung, nur einer lag flach ausgestreckt, die Arme
zum Kreuz ausgebreitet, das Hemd aufgerissen, die Haut
kreidefarben, die Augen verdreht, und atmete kaum. Es war
Matías Rodríguez de Santa Cruz. »Kommen Sie, Sir, helfen Sie
mir«, wies Williams Severo an.
Gemeinsam hoben sie ihn
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