Portrat in Sepia
Lynn Sommers englisches und
chilenisches Blut, durch ihren Vater stammte sie von den
hochgewachsenen Nordchinesen ab. Tao Chi’ens Großvater, ein
schlichter Heiler, hatte seinen männlichen Nachkommen seine
Kenntnisse von medizinisch wirksamen Pflanzen und von
magischen Beschwörungen verschiedener körperlicher und
geistiger Leiden vermacht. Tao Chi’en, der Letzte dieses
Stammes, bereicherte das väterliche Erbe, indem er sich in
Kanton bei einem Weisen als zhong yi schulen ließ sowie durch
lebenslanges Studium nicht nur der traditionellen chinesischen
Medizin - er nahm auch alles in sich auf, was ihm an westlicher
Wissenschaft in die Hände fiel. In San Francisco hatte er sich
einen soliden Ruf geschaffen, amerikanische Ärzte zogen ihn zu
Rate, und seine Patienten gehörten allen möglichen
Völkerstämmen an, aber ihm war nicht erlaubt, in
Krankenhäusern zu arbeiten, und sein Tätigkeitsfeld war auf das
Chinesenviertel beschränkt, wo er sich ein großes Haus gekauft
hatte, das im ersten Stock seine Praxis enthielt und im zweiten
die Wohnung der Familie. Sein Ansehen schützte ihn: niemand
mischte sich in sein Wirken bei den Sing Song Girls ein, wie in
Chinatown die beklagenswerten Sklavinnen des Sexgeschäfts
genannt wurden, alles sehr junge Mädche n, fast noch Kinder.
Tao Chi’en hatte es auf sich genommen, so viele wie nur
möglich vor den Bordells zu bewahren. Die Tongs Banden, die
im chinesischen Viertel alles kontrollierten und überwachten
und Schutzgelder einzogen
- wußten, daß er die kleinen
Prostituierten kaufte, um ihnen fern von Kalifornien eine neue
Existenzmöglichkeit zu geben. Sie hatten ihm einige Male
gedroht, aber sie verzichteten auf drastischere Mittel, denn
schließlich konnte jeder von ihnen früher oder später die Dienste
des berühmten zhong yi benötigen. Solange Tao Chi’en nicht zu
den amerikanischen Behörden lief, solange er handelte, ohne
Lärm zu schlagen, und die Mädchen eine nach der ändern
herausholte, konnten sie seine geduldige Ameisenarbeit
hinnehmen, denn damit tat er den enormen Gewinnen aus ihren
üblen Geschäften keinen Abbruch. Die einzige Person, die Tao
Chi’en wie eine öffentliche Gefahr behandelte, war Ah Toy, die
erfolgreichste Kupplerin von San Francisco, Besitzerin mehrerer
auf junge asiatische Mädchen spezialisierter Salons. Sie allein
importierte jährlich Hunderte von Kindern unter den
gleichgültigen Augen der gehörig geschmierten
Yankeebeamten. Ah Toy haßte Tao Chi’en und wäre, wie sie oft
genug gesagt hatte, lieber gestorben, als ihn zu konsultieren. Sie
hatte es ein einziges Mal getan, von einem hartnäckigen Husten
besiegt, und bei diesem Anlaß hatten beide begriffen, daß sie für
alle Zeiten Todfeinde sein würden. Jedes von Tao Chi’en
gerettete Sing Song Girl war ein Dorn, unter Ah Toys
Fingernägel getrieben, auc h wenn ihr das Mädchen nicht gehört
hatte. Für sie wie für ihn war das eine Prinzipienfrage.
Tao Chi’en erhob sich vor Sonnenaufgang und ging in den
Garten, wo er seine martialisch anmutenden Übungen ausführte,
um den Körper in Form und den Geist frei zu halten. Danach
meditierte er eine halbe Stunde und zündete dann das Feuer
unter dem Teekessel an. Er weckte Eliza mit einem Kuß und
einer Tasse grünen Tee, den sie langsam im Bett schlürfte.
Dieser Augenblick war beiden heilig: die Tasse Tee, die sie
gemeinsam tranken, besiegelte die Nacht, die sie in enger
Umarmung verbracht hatten. Was zwischen ihnen hinter der
geschlossenen Tür ihres Zimmers geschah, entschädigte sie für
alle Mühen des Tages. Die Liebe der beiden hatte als behutsame
Freundschaft begonnen, die sich unmerklich weiterspann
inmitten eines Gestrüpps aus Hindernissen, von der
Notwendigkeit, einander auf englisch zu verstehen und sich über
kulturelle und rassenbedingte Vorurteile hinwegzusetzen, bis zu
dem nicht unerheblichen Altersunterschied. Drei Jahre lang
hatten sie unter demselben Dach miteinander gelebt und
gearbeitet, ehe sie endlich wagten, die unsichtbare Grenze, die
sie trennte, zu überschreiten. Bis zu diesem Ziel hatte Eliza
Tausende von Meilen einer nicht enden wollenden Reise
zurücklegen müssen, auf der Suche nach einem
phantomgleichen Geliebten, der ihr wie ein Schatten durch die
Finger schlüpfte, wobei ihre Vergangenheit und ihre Unschuld
sich in Fetzen auflösten. Bis sie schließlich vor dem
abgeschlagenen und in Gin eingelegten Kopf des legendären
Banditen Joaquin
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