Portrat in Sepia
große Erwartungen in
Empfang genommen hatte, überzeugt, daß er ein faules Ei sein
müsse - der einzige Grund, weshalb sie ihn aus Chile
fortschickten -, erlebte eine freudige Überraschung, als sie
herausfand, was für einen klugen, fein empfindenden Neffen sie
da hatte. In wenigen Jahren lernte Severo Englisch mit einer
Leichtigkeit sprechen, die sonst niemand in seiner Familie je
hatte aufbringen können, kannte die Unternehmungen seiner
Tante bald so gut wie seine Westentasche, durchquerte die
Vereinigten Staaten zweimal mit der Eisenbahn - das eine Mal
wurde durch angreifende mexikanische Banditen gepfeffert -,
und die Zeit reichte ihm sogar, um Anwalt zu werden. Mit
Cousine Nivea unterhielt er einen wöchentlichen Briefwechsel,
der mit den Jahren eher als geistiger denn als schwärmerischer
Austausch zu bezeichnen war. Sie erzählte ihm von der Familie
und dies und das aus der chilenischen Politik; er kaufte ihr
Bücher und schnitt für sie Zeitungsartikel aus über die
Fortschritte der Frauenrechtler in Europa und den Vereinigten
Staaten. Die Nachricht, daß im nordamerikanischen Kongreß ein
Antrag vorgelegt worden sei, der das Frauenwahlrecht
genehmigen sollte, wurde von beiden begeistert begrüßt, wenn
sie sich auch darin einig waren, daß es dem Wahnsinn
gleichkäme, sich etwas Ähnliches in Chile vorzustellen. »Was
gewinne ich mit dem vielen Lesen und Studieren, Severo, wenn
es im Leben einer Frau keinen Platz zum Handeln gibt? Meine
Mutter sagt, es wird unmöglich sein, mich zu verheiraten, weil
ich die Männer abschrecke, ich soll mich gefälligst hübsch
machen und den Mund halten, wenn ich einen Mann abkriegen
will. Meine Familie lobt meine Brüder über den grünen Klee
beim geringsten Anzeichen von Wissen
- und ich sage
geringsten, Du weißt ja, wie dumm sie sind -, aber bei mir ist es
dann Prahlerei. Der einzige, der mich duldet, ist mein Onkel
José Francisco, weil ich ihm Gelegenheit gebe, zu mir über
Naturwissenschaft, Astronomie und Politik zu sprechen, über
die Themen läßt er sich nur zu gerne stundenlang aus, bloß daß
meine Ansichten ihm völlig egal sind. Du kannst Dir nicht
vorstellen, wie sehr ich Männer wie Dich beneide, die die ganze
Welt als Schauplatz haben«, schrieb das junge Mädchen. Die
Liebe nahm in Niveas Briefen nur ein paar Zeilen ein und ein
paar Worte in denen Severos, als wären sie stillschweigend
übereingekommen, die heftigen, hastigen Liebkosungen in den
Zimmerwinkeln zu vergessen. Zweimal im Jahr schickte Nivea
ihm ein Foto von sich, damit er sah, wie sie sich nach und nach
in eine Frau verwandelte, und er versprach zwar, ihr auch eins
von sich zu schicken, vergaß es aber immer wieder, so wie er es
jedesmal vergaß, ihr zu schreiben, daß er auch diese
Weihnachten nicht nach Hause kommen werde. Eine andere,
mehr aufs Heiraten versessene Frau als Nivea hätte nun die
Fühler ausgestreckt, um einen weniger unzuverlässigen
Bräutigam ausfindig zu machen, aber sie zweifelte niemals
daran, daß Severo einmal ihr Ehemann sein werde. Dessen war
sie sich so sicher, daß diese über Jahre hinausgezogene
Trennung sie nicht zu sehr beschäftigte; sie war bereit, zu
warten, bis ans Ende aller Zeiten. Severo seinerseits bewahrte
die Erinnerung an seine Cousine wie an ein Symbol alles Guten,
Edlen und Reinen.
Matías’ Erscheinung hätte die Meinung seiner Mutter, er sei
weiter nichts als ein gutgekleideter Trottel, bestätigen können,
nur hatte er im Grunde ganz und gar nichts von einem Trottel.
Er hatte alle bedeutenden Museen Europas besucht, kannte sich
in Kunst aus, konnte jeden klassischen Dichter rezitieren und
war der einzige, der die Bibliothek des Hauses benutzte. Er
kultivierte seinen eigenen Stil, eine Mischung aus Bohemien
und Dandy; von ersterem hatte er den Hang zum Nachtleben,
vom zweiten das Vernarrtsein in genau aufeinander abgestimmte
Einzelheiten seiner Kleidung. Er wurde als beste Partie von San
Francisco angesehen, aber er bekannte sich entschieden zum
Junggesellentum; eine nichtssagende Unterhaltung mit dem
schlimmsten seiner Feinde war ihm angenehmer als eine
Verabredung mit der reizvollsten seiner Verehrerinnen. Das
einzige, was man mit den Frauen gemeinsam haben könne, sei
die Fortpflanzung, ein in sich absurder Zweck, wie er sagte. Um
den Zwängen der Natur entgegenzukommen, zog er eine
Berufshure vor, eine der vielen, die immer greifbar waren. Ein
munterer Herrenabend, der nicht mit
Weitere Kostenlose Bücher