Portrat in Sepia
jetzt war Lynns Leben ruiniert.
Sie weinte in Taos Armen, bis der sie daran erinnerte, daß sie
mit sechzehn Jahren eine ähnliche bittere Erfahrung hatte
durchleiden müssen: die gleiche maßlose Liebe, der Verrat des
Geliebten, die Schwangerschaft und das Entsetzen; der
Unterschied lag darin, daß Lynn nicht allein war, nicht aus dem
Haus fliehen und im Laderaum eines Schiffes um die halbe Welt
reisen mußte auf der Suche nach einem ehrlosen Mann, wie sie
es getan hatte. Lynn hatte sich an ihre Eltern gewandt, und sie
hatten das große Glück, ihr helfen zu können, hatte Tao Chi’en
gesagt. In China oder in Chile wäre seine Tochter verloren, die
Gesellschaft würde ihr nicht verzeihen, aber in Kalifornien,
einem Land ohne Tradition, gebe es Raum für alle. Der zhong yi rief seine kleine Familie zusammen und erklärte, das Kind sei
ein Geschenk des Himmels, und sie müßten es voller Freude
erwarten; Tränen seien schlecht für das Karma, schadeten dem
Kind im Leib der Mutter und zeichneten es für ein Leben in
Ungewißheit. Dieser Junge oder dieses Mädchen sei ihnen
willkommen; Lucky als künftiger Onkel und er selbst, der
Großvater, würden den abwesenden Vater würdig vertreten. Und
was Lynns enttäuschte Liebe angehe, nun, daran würden sie
später denken. Er schien so begeistert von der Aussicht,
Großvater zu werden, daß Eliza ihre Tränen trocknete und
aufhörte, sich anzuklagen. Wenn für Tao das Mitleid mit seiner
Tochter mehr zählte als die Familienehre, mußte es für sie
genauso sein; ihre Pflicht war es, Lynn zu beschützen, alles
übrige war dagegen bedeutungslos. Das erklärte sie Severo
freundlich an diesem Tag im Teesalon. Sie verstand zwar nicht,
weshalb der Chilene so darauf beharrte, mit ihrer Tochter zu
sprechen, aber sie legte bei Lynn ein gutes Wort für ihn ein, und
endlich stimmte das Mädchen zu. Lynn erinnerte sich kaum an
ihn, aber sie empfing ihn in der Hoffnung, daß Matías ihn
gesandt habe. In den folgenden Monaten wurden Severos
Besuche im Heim der Chi’ens zur Gewohnheit. Er kam am
Abend, wenn seine Arbeit beendet war, band sein Pferd an der
Tür an und trat ein, in der einen Hand den Hut und in der ändern
irgendein Geschenk, wodurch Lynns Zimmer sich mit Spielzeug
und Kleidung für Babys füllte. Tao Chi’en lehrte ihn Mah-Jongg,
und sie saßen stundenlang mit Eliza und Lynn und zogen die
schönen Elfenbeinsteine über das Brett. Lucky beteiligte sich
nicht daran, er hielt es für Zeitvergeudung, ohne Einsatz zu
spielen, Tao dagegen spielte nur im Schoß der Familie, in seiner
Jugend hatte er damit aufgehört, um Geld zu spielen, und er war
sicher, wenn er dieses Gelübde bräche, würde ihn ein Unheil
treffen. Die Chi’ens gewöhnten sich so an Severo, daß sie
unruhig auf die Uhr schauten, wenn er sich einmal verspätete.
Eliza nutzte sein Kommen, um mit ihm ihr Spanisch
aufzupolieren und Erinnerungen an Chile auszutauschen, dieses
ferne Land, in das sie seit dreißig Jahren nicht mehr den Fuß
gesetzt hatte, das sie aber immer noch als ihre Heimat
betrachtete. Sie sprachen über die Kriegsereignisse und über die
politischen Veränderungen: nachdem mehrere Jahrzehnte
hindurch die Konservativen regiert hatten, waren jetzt die
Liberalen am Ruder, und der Kampf, die Macht des Klerus zu
mindern und Reformen durchzusetzen, hatte jede chilenische
Familie gespalten. Die Männer, so katholisch sie auch sein
mochten, strebten in der Mehrheit danach, das Land zu
modernisieren, aber die Frauen, die sehr viel frommer waren,
wandten sich gegen ihre Väter und ihre Ehemänner, um die
Kirche zu verteidigen. Wie Nivea in ihren Briefen schrieb, war
das Schicksal der Armen, so liberal sich die Regierung auch
gebärdete, immer noch das gleiche, und sie fügte hinzu, wie
immer hätten die Frauen der Oberklasse und der Klerus
weiterhin die Fäden der Macht in der Hand. Die Kirche vom
Staat zu trennen sei zweifellos ein großer Schritt vorwärts,
schrieb dieser unerschrockene Sproß des del Valle-Clans, bei
dem dieserart Ideen verpönt waren, aber es seien eben immer
wieder dieselben Familien, die die Lage kontrollierten. »Laß uns
eine neue Partei gründen, Severo, eine, die Gerechtigkeit und
Gleichheit sucht«, schrieb sie, angeregt von ihren heimlichen
Gesprächen mit Schwester Maria Escapulario.
Im Süden des Kontinents ging der Salpeterkrieg weiter und
wurde immer blutiger, während die chilenischen Streitkräfte
sich bereit machten,
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