Portrat in Sepia
grüner Tunika
und mit einer Blume über jedem Ohr. Er sah zwei brennende
Kerzen und mehrere kleine Schalen mit Wasser, Reis und
Blütenblättern. Eliza kniete vor diesem Altar auf ein Kissen aus
orangefarbener Seide nieder und betete zu Christus, zu Buddha
und zu Lins Geist, sie möchten herbeieilen und ihrer Tochter bei
der Geburt helfen. Severo stand hinter ihr und murmelte
mechanisch die katholischen Gebete, die er in seiner Kindheit
gelernt hatte. So blieben sie eine ganze Zeit lang, vereint durch
die Liebe zu Lynn und die Angst um sie, bis Tao seine Frau rief,
weil er ihre Hilfe brauchte. Er hatte die Hebamme verabschiedet
und machte sich bereit, das Kind zu drehen und es selbst zu
holen. Severo blieb bei Lucky, sie standen rauchend vor der Tür,
während Chinatown nach und nach erwachte. Früh am
Dienstagmorgen wurde das Kind geboren. Die Mutter, zitternd
und schweißnaß, kämpfte, aber sie schrie nicht mehr, sondern
keuchte hechelnd, wie ihr Vater sie anwies. Endlich biß sie die
Zähne zusammen, klammerte sich an das Bettgestell und preßte
mit ungeheurer Entschlossenheit, und ein Büschel dunkler Haare
erschien. Tao Chi’en packte den Kopf und zog fest und zart
zugleich, bis die Schultern sichtbar wurden, dann drehte er den
kleinen Körper und zog ihn mit einer einzigen Bewegung
heraus, während er mit der anderen Hand das dunkelviolette
Geschlinge loslöste, in dem sich der Hals verfangen hatte. Eliza
bekam ein blutiges Bündel in die Arme gelegt, ein winziges
kleines Mädchen mit plattgedrücktem Gesicht und blauer Haut.
Während Tao die Nabelschnur durchschnitt und sich dem
zweiten Teil der Geburt widmete, wusch die Großmutter ihre
Enkelin mit einem Schwamm und klopfte ihr dabei auf den
Rücken, bis sie anfing zu atmen. Als Eliza den Schrei hörte, der
den Eintritt ins Leben verkündete, und feststellte, daß das Kind
eine normale Farbe bekam, legte sie es Lynn auf den Leib. Die
erschöpfte Mutter richtete sich auf einem Ellbogen auf, um es in
Empfang zu nehmen, während ihr Körper weiter pulsierte, und
legte es sich an die Brust, küßte es und hieß es willkommen in
einer Mischung aus englischen, spanischen, chinesischen und
erfundenen Worten. Eine Stunde später rief die Großmutter
Severo und Lucky herein, damit sie das kleine Mädchen
kennenlernten. Sie fanden es friedlich schlafend in der Wiege
aus gehämmertem Silber, die den Rodriguez de Santa Cruz
gehört hatte, gekleidet war es in gelbe Seide und trug eine rote
Zipfelmütze, mit der es aussah wie ein winziger Kobold. Lynn
schlief bleich und still zwischen sauberen Laken, und Tao
Chi’en saß neben ihr und überwachte ihren Puls.
»Welchen Namen werden Sie ihr geben?« fragte Severo
tiefbewegt.
»Das müssen Lynn und Sie entscheiden«, entgegnete Eliza.
»Ich?«
»Sind Sie nicht der Vater?« fragte Tao heiter zwinkernd.
»Sie soll Aurora heißen, weil sie bei Tagesanbruch geboren
wurde«, murmelte Lynn, ohne die Augen zu öffnen.
»Ihr chinesischer Name ist Lai-Ming, das bedeutet
Tagesanbruch«, sagte Tao Chi’en.
»Willkommen auf der Welt, Lai-Ming, Aurora del Valle«,
sagte Severo lächelnd und küßte das kleine Mädchen auf die
Stirn, überzeugt, daß dies der glücklichste Tag seines Lebens
war und dieses wie eine chinesische Puppe angezogene runzlige
kleine Ding so gut seine Tochter, als trüge sie wirklich sein Blut.
Lucky nahm seine Nichte in die Arme und blies ihr seinen nach
Tabak und Sojasauce riechenden Atem ins Gesicht. »Was
machst du da!« rief die Großmutter und versuchte, sie ihm aus
den Händen zu reißen.
»Ich puste sie an, um mein Glück auf sie zu übertragen.
Welches andere Geschenk, das sich lohnte, könnte ich Lai-Ming
schon geben?« fragte der frischgebackene Onkel lachend.
Als Severo um die Essenszeit in das Haus auf Nob Hill
zurückkam mit der Neuigkeit, daß er vor einer Woche Lynn
Sommers geheiratet habe und daß heute morgen seine Tochter
geboren sei, waren Onkel und Tante dermaßen bestürzt, als hätte
er einen toten Hund auf den Eßtisch gepackt.
»Und alle haben die Schuld auf Matías geschoben! Ich habe
doch gewußt, daß er nicht der Vater ist, aber niemals hätte ich
gedacht, daß du es bist!« rief Feliciano wütend, als er sich
halbwegs von der Überraschung erholt hatte.
»Ich bin nicht der biologische Vater, aber Vater vor dem
Gesetz. Das Kind heißt Aurora del Valle«, erklärte Severo.
»Das ist eine unverzeihliche Dreistigkeit! Du hast
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