Portrat in Sepia
diese
Familie verraten, die dich wie einen Sohn aufgenommen hat!«
brüllte sein Onkel. »Ich habe niemanden verraten. Ich habe aus
Liebe geheiratet.«
»Aber war diese Frau nicht in Matías verliebt?«
»Diese Frau heiß t Lynn und ist meine Ehefrau, und ich
verlange, daß Sie sie mit dem gebührenden Respekt behandeln«,
sagte Severo knapp und stand auf. »Du bist ein Idiot, Severo, ein
kompletter Idiot!« fuhr Feliciano ihn an und verließ wütend mit
Riesenschritten den Speiseraum. Williams, der Mann mit dem
undurchdringlichen Gesicht, der in diesem Augenblick eintrat,
um das Servieren des Nachtisches zu überwachen, konnte ein
komplizenhaftes schnelles Lächeln nicht unterdrücken, bevor er
sich diskret zurückzog. Paulina hörte ungläubig Severos
Erklärung an, er werde in ein paar Tagen nach Chile in den
Krieg reisen, Lynn werde weiterhin bei ihren Eltern in
Chinatown leben, und wenn alles gut ausging, werde er nach
dem Krieg zurückkehren und seine Rolle als Ehemann und
Vater übernehmen.
»Setz dich, Neffe, laß uns wie vernünftige Leute reden.
Matías ist der Vater dieses Kindes, stimmt’s?«
»Fragen Sie das ihn, Tante.«
»Ich sehe schon, wie’s ist. Du hast geheiratet, um Matías
reinzuwaschen. Mein Sohn ist ein Zyniker, und du bist ein
Romantiker… Paß auf, daß du dir nicht aus verrückter
Ritterlichkeit dein Leben ruinierst!« rief Paulina aus.
»Sie irren sich, Tante. Ich habe mir mein Leben nicht ruiniert,
im Gegenteil, ich glaube, dies ist die einzige Möglichkeit für
mich, glücklich zu werden.«
»Mit einer Frau, die einen anderen liebt? Mit einer Tochter,
die nicht die deine ist?«
»Die Zeit wird helfen. Wenn ich aus dem Krieg
zurückkomme, wird Lynn lernen, mich zu lieben, und das Kind
wird glauben, ich sei sein Vater.«
»Matías kann vor dir zurückkommen«, bemerkte Paulina.
»Das würde nichts ändern.«
»Matías brauchte nur ein Wort zu sagen, und Lynn würde ihm
folgen bis ans Ende der Welt.«
»Das ist ein unvermeidliches Risiko.«
»Du hast völlig den Kopf verloren, Junge. Diese Leute
gehören nicht zu unserem gesellschaftlichen Stand«, sagte
Paulina streng.
»Es ist die anständigste Familie, die ich kenne, Tante«,
versicherte Severo.
»Ich sehe, du hast nichts bei mir gelernt. Um in dieser Welt zu
siegen, muß man seine Rechnung aufmachen, ehe man handelt.
Du bist Anwalt mit einer brillanten Zukunft und trägst einen der
ältesten Namen Chiles. Glaubst du, die Gesellschaft wird deine
Frau anerkennen? Und deine Cousine Nivea, wartet sie etwa
nicht auf dich?« fragte Paulina. »Das ist aus.«
»Na schön, da sitzt du also voll in der Patsche, Severo, und
ich schätze, zum Bereuen ist es zu spät. Also müssen wir
versuchen, die Dinge so weit wie möglich in den Griff zu
kriegen. Geld und gesellschaftlicher Status zählen hier
genausoviel wie in Chile. Ich werde dir helfen, wie ich nur kann,
schließlich bin ich die Großmutter der Kleinen - wie, sagtest du,
heißt sie?«
»Aurora, aber ihre Großeltern nennen sie Lai-Ming.«
»Sie trägt den Nachnamen del Valle, es ist meine Pflicht, ihr
zu helfen, da ja Matías sich die Hände in Unschuld zu waschen
beliebt in dieser bedauerlichen Angelegenheit.«
»Das wird nicht nötig sein, Tante. Ich habe alles so geordnet,
daß Lynn das Geld aus meiner Erbschaft bekommt.«
»Geld hat man nie zuviel. Ich werde doch mein Enkelkind
wenigstens sehen können, nicht wahr?«
»Wir werden Lynn und ihre Eltern darum bitten«, versprach
Severo.
Sie waren noch im Speisezimmer, als Williams mit der
Botschaft hereinkam, Lynn habe einen Blutsturz erlitten und sie
fürchteten für ihr Leben, er möge doch sofort kommen. Severo
rannte Hals über Kopf hinaus und nach Chinatown. Als er ins
Haus der Chi’ens kam, fand er die kleine Familie um Lynns Bett
versammelt, so still, als säßen sie Modell für ein tragisches
Gemälde. Ganz kurz durchzuckte ihn wahnsinnige Hoffnung, als
er sah, wie sauber und ordentlich das Zimmer war, keine Spuren
der Geburt mehr, keine befleckten Tücher, kein Blutgeruch, aber
dann sah er den Schmerz auf den Gesichtern von Tao, Eliza und
Lucky. Die Luft im Raum war dünn geworden; Severo atmete
tief ein, er glaubte zu ersticken. Zitternd trat er an das Bett:
Lynn lag gerade ausgestreckt, die Hände auf der Brust, die Lider
geschlossen, die Gesichtszüge durchsichtig: eine schöne
Skulptur aus aschfarbenem Alabaster. Er nahm eine ihrer Hände
- sie war hart und kalt wie Eis - und beugte sich über sie: ihr
Atem war kaum
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