Portrat in Sepia
Leben jammernd im Bett verbringen werde, »und jetzt putz dir
die Nase und zieh dich an, wir werden Spazierengehen, und das
werden wir von nun an eisern zweimal jeden Tag tun, ob’s
regnet oder donnert, hast du gehört?« Ja, Lynn hatte gehört,
hatte bis zum Ende zugehört mit vor Verblüffung weit
aufgerissenen Augen, die Wangen brennend von den einzigen
Ohrfeigen, die sie in ihrem Leben bekommen hatte. Sie zog sich
an und gehorchte schweigend. Dies war der Augenblick, da sie
unversehens zur Vernunft kam, ihr Los von nun an mit
erstaunlicher Gelassenheit hinnahm, sich nie wieder beklagte,
Taos Medikamente schluckte, lange Spaziergänge mit ihrer
Mutter machte und sogar schallend lachte, als sie erfuhr, daß das
Projekt mit der Statue der Republik zum Teufel gegangen war,
wie ihr Bruder Lucky ihr erklärte, aber nicht nur, weil sie kein
Modell mehr hatten, sondern weil der Bildhauer sich mit dem
üppigen Vorschuß nach Brasilien abgesetzt hatte.
Ende August wagte Severo es endlich, zu Lynn von seinen
Gefühlen für sie zu sprechen. Inzwischen kam sie sich vor wie
ein Elefant so schwer und erkannte ihr eigenes Gesicht im
Spiegel nicht wieder, aber in Severos Augen war sie schöner
denn je. Sie kamen erhitzt von einem Spaziergang zurück, und
er zog sein Taschentuch, um ihr die Stirn und den Hals
abzutrocknen, aber er brachte die Bewegung nicht zu Ende,
ohne zu wissen, wie es geschah, beugte er sich über sie, packte
sie fest bei den Schultern und küßte sie mitten auf der Straße auf
den Mund. Er bat sie, ihn zu heiraten, und sie antwortete sehr
schlicht, sie werde niemals einen anderen Mann lieben als
Matías Rodríguez de Santa Cruz.
»Ich bitte Sie nicht, mich zu lieben, Lynn, die Zärtlichkeit, die
ich für Sie empfinde, reicht für uns beide«, erwiderte Severo in
der ein wenig zeremoniellen Form, mit der er sie immer
behandelte. »Das Kind braucht einen Vater. Geben Sie mir die
Möglichkeit, Sie beide zu beschützen, und ich verspreche Ihnen,
mit der Zeit werden Sie mich Ihrer Zuneigung würdig finden.«
»Mein Vater sagt zwar, in China heiraten die Paare, ohne sich
zu kennen, und lernen später, sich zu lieben, aber ich bin sicher,
daß das bei mir nicht so wäre, Severo. Es tut mir sehr leid…«
»Sie brauchen nicht mit mir zu leben, Lynn. Sowie Sie das
Kind zur Welt gebracht haben, gehe ich nach Chile. Mein Land
ist im Krieg, und ich habe meine Pflicht schon allzu lange
aufgeschoben.«
»Und wenn Sie aus dem Krieg nicht heimkehren?«
»Dann wird Ihr Kind wenigstens meinen Namen haben und
das Erbe meines Vaters, das ich noch besitze. Es ist nicht viel,
aber es wird für eine gute Ausbildung reichen. Und Sie, Lynn,
werden Ihre Ehre nicht verloren haben…«
Noch in derselben Nacht schrieb Severo an Nivea den Brief,
den er vorher nicht hatte schreiben können. Er sagte es ihr in
vier Sätzen, ohne Vorrede oder Entschuldigungen, weil er
wußte, daß sie es anders nicht ertrüge. Er wagte nicht einmal, sie
um Verzeihung zu bitten für die Verschwendung von Liebe und
Zeit, die diese vier Jahre papiernen Brautstandes sie gekostet
hatten, denn solche armselige Rechnerei waren des großmütigen
Herzens seiner Cousine nicht würdig. Er rief einen Diener,
damit der den Brief am folgenden Tag mit der Post wegschickte,
und warf sich dann erschöpft aufs Bett, ohne sich auszuziehen.
Zum erstenmal seit langer Zeit schlief er fest und traumlos.
Einen Monat später heirateten Severo del Valle und Lynn
Sommers in einer kurzen Zeremonie in Gegenwart ihrer Familie,
und auch Williams war dabei, das einzige Mitglied seines
Hauses, das Severo eingeladen hatte. Er wußte, der Butler würde
es Tante Paulina erzählen, und beschloß, abzuwarten, daß sie
den ersten Schritt tat und ihn befragte. Er verschickte keine
Hochzeitsanzeigen, denn Lynn hatte ihn um die größtmögliche
Zurückhaltung gebeten, bis das Kind geboren war und sie selbst
ihr normales Aussehen zurückgewonnen hatte; sie wage es
nicht, sich mit diesem Bauch und dem Gesicht voller Flecken
der Menschheit zu zeigen, sagte sie. An diesem Abend
verabschiedete sich Severo von seiner frischgebackenen Frau
mit einem Kuß auf die Stirn und ging wie immer zum Schlafen
in sein Junggesellenzimmer auf dem Nob Hill. In derselben
Woche entbrannte in den Wassern des Pazifik eine weitere
Seeschlacht, und die chilenische Flotte schlug die beiden
feindlichen Panzerkreuzer vernichtend. Der peruanische
Admiral Miguel Grau,
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