Portrat in Sepia
wahrnehmbar, Lippen und Finger waren blau.
Er küßte unendlich lange ihre Hand, netzte sie mit seinen
Tränen, von Trauer überwältigt. Sie konnte eben noch Matías’
Namen flüstern, dann seufzte sie ein-, zweimal und starb mit der
gleichen Leichtigkeit, mit der sie durch diese Welt geflattert
war. Tiefe Stille empfing das Mysterium des Todes, und eine
unmöglich zu messende Zeit hindurch warteten sie unbeweglich,
während Lynns Geist dahinging. Severo fühlt e ein langes
Heulen vom Grund der Erde aufsteigen, durch ihn
hindurchdringen von den Füßen bis zum Mund, aber es kam ihm
nicht von den Lippen. Der Schrei nahm sein Inneres in Besitz,
füllte ihn ganz aus und barst in seinem Kopf in einer lautlosen
Explosion. So kniete er dort an ihrem Bett, wortlos Lynn
anrufend, und konnte nicht glauben, daß das Schicksal ihm mit
einem Schlag die Frau entriß, von der er so lange geträumt hatte,
sie ihm fortnahm, als er eben glaubte, sie erobert zu haben. Eine
Ewigkeit später spürte er eine Berührung an der Schulter und
blickte in die gramvollen Augen Tao Chi’ens, »ist ja gut, ist ja
gut«, glaubte er ihn murmeln zu hören, und weiter hinten sah er
Eliza und Lucky, die einander schluchzend umarmten, und er
fühlte sich als Eindringling in den Schmerz dieser Familie. Da
erinnerte er sich an das Kind. Taumelnd wie ein Betrunkener
ging er zu der silbernen Wiege, nahm die kleine Aurora hoch,
trug sie zum Bett und hielt sie an Lynns Gesicht, zum Abschied.
Dann setzte er sich, das Kind im Arm, und wiegte es in
trostloser Trauer.
Als Paulina erfuhr, daß Lynn Sommers gestorben war,
überkam die Freude sie wie eine Woge, und sie stieß einen
Triumphschrei aus, bevor sie aus Scham über ein so
niederträchtiges Gefühl den Mund halten konnte. Sie hatte sich
immer eine Tochter gewünscht. Von ihrer ersten
Schwangerschaft an träumte sie von dem kleinen Mädchen, das
ihren Namen tragen und ihre beste Freundin und Gefährtin sein
würde. Bei jedem der drei Jungen, die sie zur Welt brachte, hatte
sie sich betrogen gefühlt, und jetzt, in ihren reifen Jahren, fiel
ihr dieses Geschenk in den Schoß: eine Enkelin, die sie wie eine
Tochter großziehen konnte, jemand, dem sie alle Möglichkeiten
bieten wollte, die Liebe und Geld bereithielten, jemand, der im
Alter bei ihr sein würde. Jetzt, wo Lynn Sommers aus dem Spiel
war, konnte sie das kleine Wesen in Matías’ Namen zu sich
nehmen. Sie feierte diesen unvorhergesehenen Glücksfall mit
einer Tasse Schokolade und drei Cremepasteten, als Williams
sie daran erinnerte, daß die Kleine vor dem Gesetz als Severos
Tochter galt, des einzigen Menschen, der über ihre Zukunft zu
entscheiden hatte. Um so besser, folgerte sie, ihr Neffe war
wenigstens hier am Ort, während es eine langwierige Aufgabe
gewesen wäre, Matías aus Europa zu holen und ihn zu
überreden, auf dem Rechtsweg seine Tochter einzufordern.
Severos Reaktion, als sie ihm ihren Plan auseinandersetzte, hätte
sie allerdings nie und nimmer erwartet. »Im Sinne des Gesetzes
bist du der Vater, also kannst du uns die Kleine schon morgen
ins Haus holen«, sagte Paulina.
»Das werde ich nicht tun, Tante. Lynns Eltern werden ihr
Enkelkind behalten, während ich in den Krieg ziehe; sie
möchten es großziehen, und ich bin einverstanden«, entgegnete
ihr Neffe in einem so entschiedenen Ton, wie ihn Paulina noch
nie von ihm gehört hatte. »Bist du verrückt? Wir können meine
Enkelin doch nicht in den Händen von Eliza Sommers und
diesem Chinesen lassen!« rief Paulina aus. »Wieso nicht? Es
sind ihre Großeltern.«
»Ja willst du denn, daß sie in Chinatown aufwächst? Wir
können ihr alles geben, Erziehung, Luxus, einen respektablen
Namen, tausend Möglichkeiten. Nichts, aber auch gar nichts
davon können die ihr geben.«
»Sie werden ihr Liebe geben«, erwiderte Severo. »Ich auch!
Erinnere dich, wieviel du mir schuldest, Neffe. Dies ist deine
Gelegenheit, es mir zurückzuzahlen und etwas für das kleine
Mädchen zu tun.«
»Bedaure wirklich sehr, Tante, aber die Sache ist entschieden.
Aurora wird bei ihren Großeltern mütterlicherseits bleiben.«
Paulina bekam einen der vielen hysterischen Anfälle ihres
Lebens. Sie konnte nicht glauben, daß dieser Neffe, in dem sie
ihren bedingungslosen Verbündeten gesehen hatte, der ein
vierter Sohn für sie geworden war, sie derart gemein verraten
könnte. Sie schrie so sehr, schimpfte, argumentierte, daß sie fast
erstickte
Weitere Kostenlose Bücher