Portrat in Sepia
und Williams ihren Arzt rufen mußte, damit er ihr eine
ihrem Umfang angemessene Dosis Beruhigungsmittel
verabreichte und sie damit für längere Zeit einschläferte. Als sie
dreißig Stunden später erwachte, war ihr Neffe bereits an Bord
des Dampfschiffes, das ihn nach Chile bringen würde. Ihr Mann
und der treue Williams konnten sie überzeugen, daß man
keinesfalls Gewalt brauchen durfte, wie sie es sich gedacht
hatte, denn so korrupt die Justiz in San Francisco auch war, gab
es doch keine rechtliche Handhabe, den Großeltern
mütterlicherseits den Säugling zu entreißen, da nun einmal der
angebliche Vater seinen Willen schriftlich niedergelegt hatte.
Sie machten ihr auch klar, daß sie nicht zu dem abgedroschenen
Mittel greifen dürfe, Geld für die Kleine anzubieten, denn das
könne sich ins Gegenteil verkehren und ihr sehr häßlich ins
Gesicht schlagen. Der einzig mögliche Weg sei Diplomatie, bis
Severo zurückkam, und dann würden sie schon zu einer
Übereinkunft gelangen, versicherten sie ihr, aber sie wollte nicht
auf Vernunftgründe hören, und zwei Tage später erschien sie in
Elizas Teesalon mit einem Vorschlag, den, da war sie sicher, die
andere Großmutter nicht zurückweisen konnte. Eliza empfing
sie in Trauer um ihre Tochter, aber doch erhellt durch den Trost,
den die Enkelin ihr gab, die friedlich neben ihr schlief. Als
Paulina am Fenster die silberne Wiege stehen sah, in der schon
ihre Söhne gelegen hatten, gab es ihr einen Stoß, aber dann
erinnerte sie sich, daß sie Williams beauftragt hatte, sie Severo
zu übergeben, und sie biß sich auf die Lippen, schließlich war
sie nicht einer Wiege wegen hergekommen, so wertvoll die auch
sein mochte, sondern weil sie um ihre Enkeltochter handeln
wollte. »Nicht wer recht hat, gewinnt, sondern wer besser
feilschen kann«, pflegte sie zu sagen. Und in diesem Fall schien
es ihr offensichtlich, daß sie nicht nur das Recht auf ihrer Seite
hatte, sondern daß außerdem in der Kunst des Feilschens keiner
sie schlug.
Eliza hob das Baby aus der Wiege und übergab es ihr. Paulina
hielt das winzige Päckchen, das so leicht war, als wäre es nur
ein Stoffbündel, und sie glaubte, ihr solle von einem ganz neuen
Gefühl das Herz zerspringen. »Mein Gott, mein Gott!«
wiederholte sie, von einer ihr bislang unbekannten
Verletzlichkeit überrumpelt, die ihr die Knie lahmte und als
Schluchzen durch die Brust zog. Sie setzte sich mit ihrem
Enkelkind, das in ihrem umfangreichen Schoß fast verschwand,
in einen Sessel und wiegte es, während Eliza den Tee bestellte
und die Näschereien, die sie ihr früher immer vorgelegt hatte,
als Paulina ihre eifrigste Kuchenkundin gewesen war. In dieser
Zeit schaffte es Paulina, sich von der Rührung zu erholen und
ihre Artillerie in Stellung zu bringen. Sie begann damit, daß sie
ihr Beileid zu Lynns Tod aussprach, und als nächsten Schritt
erkannte sie an, ihr Sohn Matías sei zweifellos Auroras Vater,
man brauche sich das Kind ja nur anzusehen, um sicher zu sein:
es sah genauso aus, wie alle Rodriguez de Santa Cruz y del
Valle. Sie bedaure so sehr, sagte sie, daß Matías aus
gesundheitlichen Gründen in Europa sei und sein Kind noch
nicht einfordern könne. Dann brachte sie ihren Wunsch vor, ihr
Enkelchen zu sich zu nehmen, Eliza müsse doch so viel
arbeiten, habe so wenig Zeit und noch weniger Mittel,
zweifellos würde es ihr unmöglich sein, Aurora den gleichen
Lebensstandard zu geben, den diese in dem Haus auf Nob Hill
haben werde. Sie sagte das in einem Ton, als handle es sich um
eine Gunst, die zu gewähren sie gewillt sei, und überspielte die
Angst, die ihr in der Kehle saß und ihre Hände zum Zittern
brachte. Eliza erwiderte, sie danke für das großmütige Angebot,
aber sie sei sicher, daß sie und Tao Chi’en für Lai-Ming sorgen
könnten, worum auch Lynn sie vor ihrem Tode gebeten hatte.
Natürlich, fügte sie hinzu, sei Paulina im Leben der Kleinen
immer willkommen.
»Was die Frage nach Lai-Mings Vater angeht, dürfen wir
keine Verwirrung stiften«, fügte Eliza hinzu. »Wie Sie und Ihr
Sohn vor einigen Monaten versicherten, hatte er mit Lynn nichts
zu schaffen. Sie werden sich erinnern, daß Ihr Sohn klar und
deutlich erklärte, der Vater des Kindes könnte jeder beliebige
seiner Freunde sein.«
»Das sind Sachen, die man in der Hitze des Gefechts so
hinredet, Eliza. Das hat Matías gesagt, ohne nachzudenken…«,
stammelte Paulina. »Die Tatsache, daß
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