Portrat in Sepia
Hochgewachsen, massig, die Haut vom Salz aller
Meere gegerbt, war der Kapitän mit seinem wild wuchernden
Bart, der dröhnenden Stimme und den unschuldigen klaren
Kinderaugen eine imposante Gestalt in seiner blauen Uniform,
aber der Mann, den Tao jetzt in einem Sessel seines
Wartezimmers sitzen sah, war so zusammengeschrumpft, daß er
ihn kaum erkannte. Er begrüßte ihn ehrerbietig, er hatte die
Gewohnheit, sich vor ihm nach chinesischem Brauch zu
verneigen, nie ablegen können. Er hatte John Sommers in seiner
Jugend kennengelernt, als er auf seinem Schiff als Koch
gearbeitet hatte. »Mich hast du mit Sir anzureden«, hatte der
Kapitän ihn angewiesen, als er das erste Mal mit ihm sprach.
Damals hatten wir beide noch schwarzes Haar, dachte Tao jäh
beklommen angesichts dieser Todesmahnung. Der Engländer
arbeitete sich mühsam hoch, reichte ihm die Hand und drückte
ihn dann in einer kurzen Umarmung an sich. Der zhong yi stellte
fest, daß jetzt er der Größere und Schwerere von ihnen war.
»Weiß Eliza, daß Sie heute angekommen sind, Sir?« fragte er.
»Nein. Ich muß mit Ihnen allein sprechen, Tao. Ich sterbe.«
Der zhong yi hatte das bereits begriffen, kaum daß er ihn
erblickt hatte. Wortlos führte er ihn ins Sprechzimmer, wo er
ihm half, sich auszuziehen und sich auf einer Liege
auszustrecken. Sein nackter Schwiegervater bot einen
erschütternden Anblick: die Haut schwammig, kupferfarben, die
Fingernägel gelb, die Augen blutunterlaufen, der Bauch
geschwollen. Er hörte ihn ab und fühlte ihm dann den Puls am
Handgelenk, am Hals und an den Knöcheln, um sich dessen zu
vergewissern, was ihm längst klar war. »Ihre Leber ist zerstört,
Sir. Trinken Sie immer noch?«
»Muten Sie mir nicht zu, daß ich eine lebenslange
Gewohnheit aufgebe, Tao. Glauben Sie, irgend jemand könnte
als Seemann durchhalten ohne einen Schluck ab und zu?«
Tao Chi’en lächelte. Der Engländer trank eine halbe Flasche
Gin an normalen Tagen und eine ganze, wenn es etwas zu feiern
oder zu beklagen gab, ohne daß es ihn auch nur im geringsten
anzufechten schien; er roch nicht einmal danach, weil der starke
Knaster, den er rauchte, seine Kleidung und seinen Atem
tränkte. »Außerdem ist es jetzt wohl auch zu spät, es zu bereuen,
stimmt’s?« fügte John Sommers hinzu. »Sie können ein wenig
länger und in besserer Verfassung leben, wenn Sie das Trinken
aufgeben. Warum legen Sie nicht eine Ruhepause ein? Kommen
Sie für einige Zeit zu uns, Eliza und ich werden Sie pflegen, bis
Sie sich erholt haben«, schlug der zhong yi vor, ohne seinen
Schwiegervater anzusehen, damit der nicht merkte, wie
aufgewühlt er war. Wie so oft in seinem Arztberuf mußte er
gegen das entsetzliche Gefühl der Machtlosigkeit ankämpfen,
das ihn überwältigte, wenn er wieder einmal bestätigt sah, wie
kümmerlich die Hilfsmittel seiner Wissenschaft waren und wie
ungeheuer groß das menschliche Leiden. »Wie kommen Sie
bloß auf den Einfall, ich würde mich freiwillig in Elizas Hände
begeben, damit sie mich zur Abstinenz verurteilt! Wieviel Zeit
bleibt mir noch, Tao?« fragte John Sommers. »Das kann ich
nicht mit Sicherheit sagen. Dazu müßten wir eine weitere
Meinung einholen.«
»Ihre Meinung ist die einzige, die ich respektiere. Seit Sie mir
auf halbem Wege zwischen Indonesien und der afrikanischen
Küste schmerzlos einen Zahn gezogen haben, hat kein anderer
Arzt seine verdammten Finger an mich gelegt. Wie lange ist das
her?«
»Gut fünfzehn Jahre. Danke für Ihr Vertrauen, Sir.«
»Nur fünfzehn Jahre? Wieso kommt es mir vor, als hätten wir
uns ein Leben lang gekannt?«
»Vielleicht haben wir uns in einem anderen Dasein
kennengelernt.«
»Also die Sache mit der Wiedergeburt ist mir gräßlich, Tao.
Stellen Sie sich vor, ich müßte in meinem nächsten Leben ein
Moslem sein. Wissen Sie, daß die armen Kerle keinen Alkohol
trinken?«
»Genau das wird Ihr Karma sein. Bei jeder Wiedergeburt
müssen wir bewältigen, was aus dem vorhergehenden Leben
noch zu bewältigen übrigbleibt«, sagte Tao lächelnd.
»Da ist mir die christliche Hölle doch lieber, die is t weniger
grausam. Na schön, Eliza werden wir nichts von alldem
erzählen«, schloß John Sommers, während er sich wieder anzog
und mit den Knöpfen kämpfte, die ihm aus den zittrigen Fingern
rutschten. »Da dies mein letzter Besuch sein kann, ist es nur
recht und gut, daß sie und meine Enkel mich als fröhlich und
gesund in Erinnerung
Weitere Kostenlose Bücher