Portrat in Sepia
aber Paulina
wußte, daß Eliza nicht in das Milieu gehörte, in dem sie in Chile
aufgewachsen war, und daß sie nicht aus Spaß arbeitete, sondern
aus Notwendigkeit. Sie hatte auch gehört, daß sie mit einem
Chinesen zusammenlebte, aber ihre verheerende Taktlosigkeit
reichte doch nie so weit, daß sie sie geradeheraus danach gefragt
hätte.
»Señora Eliza Sommers und ich haben uns 1840 in Chile
kennengelernt; sie war damals acht und ich siebzehn, aber heute
sind wir gleichaltrig«, erklärte Paulina ihrem Neffen.
Während die Mexikanerinnen den Tee servierten, lauschte
Eliza Sommers vergnügt dem unaufhörlichen Redefluß, den
Paulina nur unterbrach, um sich einen weiteren Happen Gebäck
in den Mund zu stopfen. Severo vergaß die beiden, als er an
einem anderen Tisch ein bildhübsches Mädchen entdeckte, das
Bilder in ein Album klebte, während das Licht der Gaslampen
und die sanfte Helligkeit der Fensterscheiben sie golden
umflimmerten. Das war Lynn Sommers, Elizas Tochter, ein
Geschöpf von so seltener Schönheit, daß die Fotografen der
Stadt die damals Zwölfjährige bereits als Modell verwendeten;
ihr Gesicht prangte auf Postkarten und Plakaten und in
Kalendern mit Leier spielenden Engeln und kecken Nymphen in
Wäldern aus Pappmache. Severo war noch in dem Alter, in dem
Mädchen ein für Jungen eher abstoßendes Mysterium sind, er
aber ließ sich von der Verzauberung einfangen, mit offenem
Mund stand er vor ihr und starrte sie an, ohne zu begreifen, was
ihn da so schmerzte in der Brust und wieso er am liebsten
geweint hätte. Eliza Sommers riß ihn aus seiner Entrücktheit, als
sie die beiden zum Schokoladetrinken rief. Das Mädchen schloß
das Album, ohne ihn zu beachten, gerade als sähe sie ihn gar
nicht, und erhob sich mit einer leichten, fließenden Bewegung.
Sie setzte sich wortlos vor ihre Tasse Schokolade - ohne auch
nur den Blick zu heben, schickte sie sich in das dreiste
Anstarren des Jungen, sie wußte nur zu gut, daß ihr Aussehen
sie von den übrigen Sterblichen trennte. Sie nahm ihre
Schönheit hin wie eine Verunstaltung, in der geheimen
Hoffnung, daß sie mit der Zeit vergehen werde.
Ein paar Wochen später schiffte Severo sich mit seinem Vater
zur Rückreise nach Chile ein und nahm im Gedächtnis mit sich
die Weite Kaliforniens und das Bild Lynns, das sich fest in sein
Herz gepflanzt hatte.
Severo del Valle sah Lynn erst sehr viel später wieder, als er
nach Kalifornien und zu seiner Tante Paulina zurückkehrte, aber
seine Beziehung zu Lynn begann erst an einem Mittwoch im
Winter 1879, und da war es bereits zu spät für die beiden. 1876,
bei seinem zweiten Besuch in San Francisco, der diesmal vier
Jahre dauern sollte, hatte er seine endgültige Körpergröße
erreicht, aber er war noch sehr knochig gewesen, blaß,
tolpatschig und in seinen Bewegungen so ungeschickt, als hätte
er einige Ellbogen und Knie zuviel. Drei Jahre später, als er
wortlos, bestürzt vor Lynn stand, war er schon ein ganzer Mann
mit den edlen Gesichtszügen seiner spanischen Vorfahren, dem
geschmeidigen Körperbau eines andalusischen Toreros und der
asketischen Haltung eines Seminaristen. Vieles hatte sich
verändert in seinem Leben, seit er Lynn zum erstenmal gesehen
hatte. Das Bild dieses schweigsamen Mädchens, dessen lässige
Bewegungen an die einer Katze erinnerten, hatte ihn in den
schwierigen Entwicklungsjahren und im Schmerz der Trauer
begleitet, als sein Vater, den er angebetet hatte, frühzeitig in
Chile verstarb. Seine Mutter, die der zwar noch bartlose, aber
allzu klarsichtige und wenig ehrerbietige Sohn verwirrte,
schickte ihn auf ein katholisches Internat in Santiago. Schon
bald jedoch wurde er wieder nach
Hause verfrachtet, versehen mit einem Begleitbrief, der in
trockenem Ton erklärte, ein fauler Apfel im Faß stecke alle
anderen an, oder etwas in diesem Stil. Da wallfahrte die
opferbereite Mutter auf Knien zu einer wundertätigen Höhle, wo
die Heilige Jungfrau, einfallsreich wie immer, ihr die Lösung
zuraunte: den Sohn zum Militär melden, damit ein Sergeant sich
des Problems annehme. Ein Jahr lang marschierte Severo mit
der Truppe, ertrug die Härte und den Stumpfsinn des
Regimentsalltags und wurde im Rang eines Reserveoffiziers
entlassen - fest entschlossen, niemals in seinem ganzen Leben
auch nur in die Nähe einer Kaserne zu kommen. Kaum hatte er
den Fuß auf die Straße gesetzt, kehrte er zu seinem alten
Bekanntenkreis und zu seinen
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