Portugiesische Eröffnung
halben Stunde war Nicole in dem grauenhaften Souvenirladen verschwunden, und allmählich beschlich ihn der Verdacht, sie könnte sich durch die Hintertür verdrückt haben.
Auf der Rua Augusta wogte ein Strom aus schwarzen Regenschirmen an den hellerleuchteten Schaufenstern vorbei. Drinnen im Café spielten zwei alte Männer Domino, eine Gruppe Studenten unterhielt sich lachend und rauchend, und drei Arbeiter im Blaumann lungerten an der Theke herum.
Das ganz alltägliche Leben in einer europäischen Großstadt, dachte Valsamis wehmütig. Der Geruch von Tabak, frischen Brötchen und Backfisch. Zwei ältere Frauen schüttelten ihre Regenschirme aus und kamen herein. Beide trugen elegante Wollkostüme, bequeme Pumps, dunkle Handschuhe und passende Hüte.
Ja, dachte Valsamis, so wollte er seinen Lebensabend verbringen. Wenn nicht in Lissabon, dann in einer ähnlichen Stadt, an einem zivilisierten Ort, vielleicht in Hania. Drei Zimmer mit Blick aufs Kretische Meer. Dort wollte er alt werden, jeden Morgen am Wasser spazieren gehen und in einem kleinen Café einkehren. Dickflüssigen griechischen Kaffee trinken und seine Zähne mit Ouzo ruinieren.
Das wäre ein Zuhause, viel besser als der Ort, aus dem er stammte, ein Ort voll Fastfood, billiger Kleidung und fensterlosen Gebäuden, geprägt von schäbigem Überfluss. Die Studenten standen auf, und Valsamis blickte von seiner Tasse hoch. Dabei fiel sein Blick auf einen jungen Mann in schwarzem Pullover und Jeans. Valsamis lächelte, und der Junge lächelte zurück, während er Mantel und Büchertasche an sich nahm. Ein leicht verträumtes Lächeln, als schaute er durch Valsamis hindurch.
Ja, dachte Valsamis, als der junge Mann ihn erneut anlächelte, hier gehöre ich hin. Plötzlich hatte er alles satt. Was er getan hatte und was er noch zu tun hatte und auch Morrows anmaßende Stimme. Wenn es vorbei ist, kümmerst du dich um sie. Um Ali und die Frau.
Die Studenten gingen hinaus, und Valsamis’ Blick fiel auf ein Mädchen, das dem jungen Mann lächelnd zuwinkte. Einen Augenblick lang sah Valsamis sich so, wie der junge Mann ihn gesehen haben musste, als einen Fremden am Rande seines Blickfelds, einen unbeholfenen Touristen, der in einem Café in der Rua Augusta Kaffee trank. Als einen Narren.
Gegenüber bewegte sich etwas hinter den staubigen Auslagen von Saudade. Die Tür ging auf, und Nicole trat auf die Straße hinaus. Valsamis folgte ihr zur Straßenbahnhaltestelle in der Rua da Conceiçao. Sie entdeckte ihn in dem Durcheinander aus Mänteln und Regenschirmen, im Gedränge der Leute, die in die Straßenbahn steigen wollten, und floh aus der Menge. Valsamis merkte es zu spät. Die Türen hatten sich bereits geschlossen, und die Straßenbahn fuhr klappernd in Richtung Alfama. Ihr Gesicht entglitt ihm, ihre Schultern waren eingerahmt vom dunklen Baldachin des Regenschirms.
Wäsche, bunt wie Konfetti. Das gelbe Geflatter eines Kanarienvogels im Käfig. Eine alte Frau, die unter dem Fenster unserer Wohnung im Bairro Alto Sardinen grillt. Das war unser Lissabon. Ein Sommer, verkürzt auf touristische Schnappschüsse, auf einen warmen Abend in einem Café am Miradouro de Santa Catarina, von fern der Klang eines fadista.
Morgens blieben wir lange im Bett, lauschten den Geräuschen der Nachbarschaft, die durchs offene Fenster drangen, dem Kratzen des Besens, mit dem die Frau nebenan die Stufen kehrte, dem Häufchen alter Männer, die tratschend die Straße entlang schlenderten. Abends kochte Rahim mit großem Aufwand für die zusammengewürfelte Gemeinschaft der Herumtreiber und Studenten, die sich jeden Tag in unserer Wohnung einfanden.
Das waren Rahims Massen, die gleichen hittìstes, die wir an jenem ersten Abend auf der Place des Moulins gesehen hatten. Junge Männer, die nach Norden gekommen waren, um der Hoffnungslosigkeit und Unterdrückung ihrer Heimat zu entfliehen, und hier doch nur eine andere Art von Hoffnungslosigkeit vorgefunden hatten. Die Armut der Einwanderer. Den Zorn europäischer Frauen. Rahim fütterte alle durch, wenn auch nicht aus Nächstenliebe, sondern weil er an ihnen verdiente.
Damals machte er vor allem Ausweispapiere. Französische Arbeitsgenehmigungen für den steten Strom der Marokkaner und Algerier, dazu gelegentlich Pässe oder Studentenvisa. Rahim legte großen Wert auf Geheimhaltung und die Trennung von Arbeit und Privatleben; er hatte ein Zimmer ganz im Nordwesten der Stadt gemietet, ein schäbiges kleines Studio, das hinten am
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