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Portugiesische Eröffnung

Portugiesische Eröffnung

Titel: Portugiesische Eröffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
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gewusst, dass man ihn suchte, was Valsamis ja behauptet hatte, hätte es für ihn eine ganze Menge anderer Verstecke gegeben.
    Dann war da noch die Rechnung, das letzte Dokument aus Rahims Drucker. Achtlosigkeit, hatte ich mir gesagt, es aber nie geglaubt. Denn Rahim war nicht achtlos gewesen. Keiner von uns. Unser Beruf verlangte eine große Hingabe ans Detail, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Rahim etwas so Wichtiges übersehen hätte. Mein Instinkt verriet mir, dass Drucker und Rechnung aus einem ganz bestimmten Grund in der Molkerei geblieben waren.
    Jugend und Schönheit, die beiden Eigenschaften, die Rahim am meisten schätzte. Und es gab noch etwas, das ihn nicht losgelassen hatte. Graça Morais war ersetzbar, so wie auch ich ersetzbar gewesen war. Nein, wenn Rahim sich entschlossen hatte zu bleiben, dann nur wegen Geld. Und zwar nicht wegen der zehntausend Euro, die al-Rashidi für die Rechnung bezahlt hatte. Das war viel Geld für einen so leichten Job, aber nicht genug, um sein Leben dafür zu riskieren.
    Nein, Rahim war die Rechnung verdächtig vorgekommen, genau wie Sergej, und er hatte daraus geschlossen, dass er mehr als nur zehntausend Euro aus al-Rashidi herausholen konnte. Darum hatten sich die beiden Männer im Brasileira getroffen. Und darum hatte Rahim eine Kopie der Rechnung behalten. Letztlich hatte er mit seinem Leben dafür bezahlt.
    Nichts davon erklärte allerdings das viel größere Problem, nämlich die Rechnung als solche und die Fracht, die darin beschrieben war: fünf Alazan-Raketen, die man heimlich, still und leise aus dem Hafen von Odessa herausgeschafft hatte. Größer als Nairobi. Ich hatte Valsamis’ Warnung nicht vergessen, die in diesem Zusammenhang durchaus einen Sinn ergab. Ich dachte an Beirut, die unsichtbare, tödliche Wolke, die die Alazan über der Stadt verströmen würde. Durch die Hamra und die schmalen Gassen von Ras Beirut bis hinaus auf die überfüllte Corniche. Dort oder in den Moscheen und auf den Märkten von Teheran oder im wimmelnden Labyrinth der Altstadt von Jerusalem. Größer als Nairobi, sagte ich mir, viel größer.
    Kurz vor dem Hafen hörte ich Schritte hinter mir, Frauenschritte, schnell und leicht. Graça, dachte ich und drehte mich um.
    Sie rang nach Luft, ihr Atem bildete in der kalten Morgenluft eine dicke Wolke.
    »Sie hätten mir nicht folgen dürfen«, sagte ich und ging schneller, sodass sie neben mir herlaufen musste. »Das ist zu gefährlich.«
    »Ich komme mit.«
    »Ich an Ihrer Stelle würde für eine Weile verschwinden«, riet ich ihr, ohne langsamer zu werden. »Verlassen Sie Lissabon. Am besten gehen Sie weg aus Europa. Sie dürften wohl problemlos an einen Pass kommen.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich gehe nicht zurück in die Molkerei.«
    »Machen Sie, was Sie wollen, ich nehme Sie nicht mit.«
    Wir hatten den Hafen erreicht, und ich sah die Fähre, deren Lichter sich im öligen Flusswasser spiegelten. Über uns auf dem dunklen Hügel thronte der gigantische Cristo Rei wie ein silberner Halbmond.
    »Sie brauchen eine Dolmetscherin«, sagte Graça.
    »Mein Portugiesisch ist gut.«
    »Ich habe Ihr Portugiesisch gehört.« Sie zögerte. »Gomes hat eine Wohnung in Campo de Ourique. Ich kann Sie hinbringen.«
    Ich blieb stehen und sah sie an. Sie hat Angst, dachte ich, und doch wollte sie nicht klein beigeben.
    »Aber Sie werden nur tun, was ich Ihnen sage, verstanden?«
    Graça nickte.
    »Verstanden?«, wiederholte ich.
    »Verstanden.«
     
    Sabri Kanj hob den Kopf und schaute zu dem Mann auf, der ihn verhört hatte. Der Mann trat an das primitive Waschbecken in der Ecke der Zelle und wusch sich die Hände, dann rollte er die Ärmel hinunter und knöpfte die Manschetten sorgfältig zu, als könnten ihm diese winzigen Gesten einen Hauch von Zivilisiertheit verleihen. Mittlerweile betrachtete Kanj dies als Zeichen, dass sie für diesen Tag fertig waren, und seine Muskeln in den Seilen entspannten sich ein wenig. Am Vortag hatten ihm zwei andere Männer mit Elektrokabeln auf die Hände geschlagen und ihm sämtliche Finger gebrochen. Die Schmerzen waren so stark, dass er immer wieder ohnmächtig zu werden drohte und nur mühsam wach bleiben konnte.
    Er hatte einmal geglaubt, dies sei das Schlimmste, was ihm jemand antun könne. Als sie im ersten Studienjahr an der American University den Roman 1984 gelesen hatten, hatte er zu Mina gesagt, man könne ihm alles antun, nur nicht das. Wenn sie ihm die Finger brächen, könne er nie

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