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Portugiesische Eröffnung

Portugiesische Eröffnung

Titel: Portugiesische Eröffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
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Schnee hatten die gleiche blaue Färbung angenommen, und die Bäume wirkten kahl und finster.
    Sein Handy zerriss die Stille des Zwielichts. Er zuckte zusammen und holte es aus der Manteltasche.
    »Ja?«, meldete er sich leise.
    »John?« Es war Kostecky.
    Normale Bürozeiten, jedenfalls in Washington, D.C.
    »Ja?« Irgendetwas stimmte nicht.
    »Es wird gemunkelt, dass noch jemand an deinem Mädchen interessiert ist.« Kostecky räusperte sich.
    »Wer?« Valsamis spürte, dass Kostecky ihm diese Nachricht nur ungern übermittelte.
    Langes Schweigen. Valsamis glaubte schon, die Verbindung wäre unterbrochen. Dann meldete sich Kostecky wieder.
    »Morrow.«

Fünfundzwanzig
    Als meine Mutter nachmittags immer noch nicht zurück war, fuhr mein Großvater in die Stadt, um sie zu suchen. Unser Schiff sollte um sechs Uhr ablegen, und außer den Koffern hatten wir schon alles an Bord gebracht. Da es zu heiß war, um im Garten zu sitzen, wartete ich mit meiner Großmutter in der ausgeräumten Villa, wo sie in den leeren Zimmern unruhig auf und ab lief.
    Es waren nur vierzig Kilometer bis Beirut und zurück, aber es dauerte Stunden, bis wir etwas von meinem Großvater hörten. Nach sechs rief er endlich an. Inzwischen war uns klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste und wir Jounieh an diesem Tag nicht mehr verlassen würden. Er gab nur die knappen Tatsachen durch und war nicht in der Lage, meine Großmutter am Telefon zu trösten; zu viel war noch zu erledigen. Die Sache mit der Leiche. Dafür würde er seine ganze Kraft brauchen.
    Als er zurückkehrte, war es fast Mitternacht. Ich sah von der Veranda, wie die Lichter seines Mercedes über die Anhöhe strichen und in der Einfahrt zum Stehen kamen. Er blieb noch eine Weile im Wagen sitzen, während der Motor langsam abkühlte. Ich konnte seinen Kopf durchs Fenster sehen und wie seine Schultern bebten. Zehn, fünfzehn Minuten später hatte er sich so weit gefasst, dass er aussteigen konnte.
    Mein Großvater hatte als Einziger von uns gesehen, was man meiner Mutter angetan hatte, doch meine Großmutter musste eine andere, noch schwerere Last tragen. Sie hatte ihre Tochter an jenem Morgen nach Beirut fahren lassen, worunter sie bis zu ihrem Lebensende leiden sollte.
    Es dauerte noch eine ganze Woche, bis wir abreisen konnten, nachdem man die Überreste meiner Mutter auf dem Familienfriedhof in Achrafiye begraben hatte und alle anderen Angelegenheiten erledigt waren. Kanj kam nicht zum Begräbnis. Er hätte es auch nicht gekonnt, selbst wenn er gewollt hätte. Sogar in der Trauer stand der Krieg zwischen uns. Dennoch hielt ich in der Kirche unwillkürlich nach ihm Ausschau. Immerhin war er ihr Geliebter gewesen.
    Ich erfuhr erst viel später, was aus ihm geworden und wer er schon damals gewesen war. Es ist ein Beweis für die absolute Ungerechtigkeit des Krieges, dass er aus Beirut entkam, während meine Mutter dort sterben musste.
     
    Ich klemmte mir die Taschenlampe in den Mund und quetschte mich durch die schmale Klapptür über dem Treppenabsatz im ersten Stock, die auf den Dachboden führte. Ich musste mich ducken, so niedrig waren die Deckenbalken. Es war dunkel und eng, die Luft dick vom jahrhundertealten Moder, der Boden mit den Hinterlassenschaften fremder Menschen übersät, die mir auf immer ein Rätsel bleiben würden. Eine Puppe ohne Beine, eine Kiste mit leeren Flaschen, ein Lederkoffer, eine Rationskiste aus dem Ersten Weltkrieg und andere Dinge, die so verstaubt waren, dass man sie nicht erkennen konnte, Einzelteile irgendwelcher Apparate und Berge von Stoff, in denen Mäuse nisteten.
    Ich schob eine Spinnwebe beiseite, bückte mich und öffnete die verbeulte Metallkiste, in der die Überbleibsel meines Lebens untergebracht waren. Ich beleuchtete den Inhalt mit der Taschenlampe. Eine magere Ansammlung. Einige wenige Fotos, meine Entlassungspapiere aus dem Maison des Baumettes und die Dinge, die mir meine Tante hinterlassen hatte: eine braune Papiertüte mit Familienfotos und ein weißer Schuhkarton, auf dem in Goldbuchstaben DIOR PARIS stand.
    Ich nahm den Deckel ab und holte den letzten Brief aus dem Karton, hielt ihn vors Gesicht und sog tief die Luft ein. Was erhoffte ich mir? Meeresluft und Rosmarin und Geranien, die sonnenheißen Felsterrassen von Jounieh? Doch ich roch nur den Geruch der Zeit, Schimmel und Mottenkugeln, den verblichenen Zedernduft der Kommode und einen ganz schwachen Hauch jener Rosensäckchen, die meine Tante im Herbst in ihre

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