Portugiesische Eröffnung
Schränke legte. Irgendjemand, vermutlich meine Großmutter, musste den Brief persönlich nach Frankreich gebracht haben, denn er trug keine Briefmarke, nur die Anschrift meiner Tante.
Ich holte das Blatt vorsichtig aus dem Umschlag, entfaltete es entlang der beiden vergilbten Knicke und hielt es ans Licht .
Jounieh
20. April 1983
Liebe Emilie,
ich musste an den Abend vor so vielen Jahren denken, als wir hier am Strand schwimmen gegangen und dabei in den Sog geraten sind. Weißt du noch, wie ich in Panik geraten bin und du mich vor dem Ertrinken retten musstest? Ich dachte, wir müssten sterben, also habe ich dir alle möglichen Dinge gebeichtet. Dass ich mich von Marc Nazal neben den Tennisplätzen am Summerland habe küssen lassen, obwohl ich wusste, dass du ihn gern hattest. Dass ich und nicht die Haushälterin die Flasche Chanel gestohlen hatte, die Nana Sophie dir zum sechzehnten Geburtstag aus Frankreich geschickt hatte. Dir gegenüber konnte ich nie gut Geheimnisse bewahren.
Ich wollte dir kürzlich am Telefon so viel sagen, aber ich konnte es nicht. Ich verspreche, es dir zu erzählen, wenn wir in Frankreich sind. Vielleicht hast du schon die ganze Zeit geahnt, was los war, so wie du auch von der Sache mit mir und Marc Nazal wusstest, aber nie ein Wort gesagt hast. Du warst immer klüger als ich.
Tut mir leid, dass ich dich angelogen habe. Es ist eine schwache Entschuldigung, aber ich habe es gut gemeint. Sabri und ich haben es beide gut gemeint.
Ich nehme an, ich sollte sagen, es sei am besten, den Libanon zu verlassen, aber ich kann es nicht. Ich würde lügen. Ich habe einfach keine andere Wahl, als wegzugehen. Ich habe Papa davon überzeugt, Sabri auf einem seiner Schiffe mitzunehmen, und Sabri ist damit einverstanden.
Es fällt schwer zu glauben, dass die Amerikaner uns beschützen, wenn sie sogar bereit sind, sich selbst zu zerstören. Und es sieht ganz so aus, als wäre genau das passiert, denn man hat die Bombardierung einfach zugelassen. Das ergibt natürlich keinen Sinn, aber was ergibt schon einen Sinn in diesem Krieg?
Gestern habe ich die französische Botschaft angerufen und alles gesagt, was ich wusste. Nicht gerade heroisch, aber es war alles, was ich tun konnte. Zu den Amerikanern kommt man im Augenblick nicht durch, und leider vertraue ich den Franzosen mehr als den Libanesen.
Ehrlich gesagt, sie haben mich wohl für verrückt gehalten. Ich konnte ihnen nicht einmal Namen nennen, doch der Mann, mit dem ich geredet habe, versprach mir, meine Informationen an die richtige Stelle weiterzuleiten, was immer das auch heißen mag.
Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich solche Angst. Ich habe Angst, unter Schmerzen oder allein zu sterben. Ich habe Angst, für Ziele zu sterben, die mir fremd sind, für etwas, an das ich nicht glaube. Ich habe Angst vor der Anonymität des Todes, vor der furchtbaren Frau auf Voice of Lebanon, die jeden Abend die Zahl der Toten verkündet und nicht mal mehr die Namen nennt. Ich habe Angst, von den Syrern oder der Hisbollah oder für wen auch immer dieser Mann gearbeitet hat, gefangen zu werden. Ich habe gesehen, was sie Menschen antun.
Bitte versprich mir, dich um Nicole zu kümmern, wenn ich sterbe. Irgendwann wird sie das alles vielleicht herausfinden, aber sie soll es nicht von dir erfahren. Vielleicht werde ich beiden irgendwann die Wahrheit sagen können, aber im Augenblick weiß ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. In dieser Welt haben die Mächtigen immer den Vorteil auf ihrer Seite. Ich kann nur hoffen, dass Nicole es verstehen und mir verzeihen wird. Ich hoffe, eines Tages wird auch Sabri mir verzeihen.
Es ist schwer zu glauben, dass wir in wenigen Stunden weg sein werden. Maman hat Nicole zur Schule gefahren, damit sie sich von ihren Freundinnen verabschieden kann, und Papas Männer haben die Möbel und die ganzen Kisten weggebracht. Eine seltsame Vorstellung, dass dieser Ort und dieser Krieg auch ohne uns weiterexistieren werden.
Ich wünschte, du wärst hier. Ich wünschte, wir könnten ein letztes Mal die Promenade entlanggehen oder mit dem Auto in die Berge fahren. Vielleicht fahre ich allein hin. Ich habe noch viel Zeit, und alles ist besser, als in diesem leeren Haus zu sitzen. Ich werde mich auch für dich von allem verabschieden.
Alles Liebe,
Mina
Natürlich war meine Mutter nicht die Promenade entlanggegangen oder in die Berge gefahren. Sie hatte sich irgendwann zwischen dem
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