Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
zittriger Hand geschriebenenBuchstaben. Von dieser Bank hatte sie noch nie gehört. Es war eine Auslandsverbindung, auf den Überweisungen stand eine Menge weiterer Angaben, nicht allein die Kontonummer und die Bankleitzahl. Gudrun von Rechlin hatte damit keinerlei Erfahrung, sie überwies ihre Rechnungen wie gehabt mit Hilfe der Vordrucke, die sie von der örtlichen Sparkasse bekam. Diese warf sie dann in den Briefkasten, anschließend ging alles seinen Gang. Eine Überweisung ins Ausland hatte sie noch nie getätigt, geschweige denn, jemals etwas mit Bankgeschäften übers Internet zu tun gehabt. Der Speichel in ihrem Mund war bitter, und sie dachte daran, sich einen kleinen Enzian zu genehmigen. Sie fand nichts an Alkohol, aber jetzt sehnte sie sich nach dem scharfen Brennen des klaren Schnapses. Er sollte den schlechten Geschmack wegätzen und ihr Gefühl der Vergeblichkeit, das sich seit Tagen wie ein Panther hinterrücks angeschlichen hatte. Sie spürte, dass die Raubkatze kurz davor war, zum alles vernichtenden Sprung anzusetzen, und dann würde sie vor einem Scherbenhaufen stehen, der ein Weiterleben unmöglich machte. Sie wollte, nein, sie durfte nicht daran scheitern, dass sie nicht wusste, wie man eine Überweisung von dieser Bank tätigte. Offenbar war sie nun gezwungen, das zu tun, was schon Julius hatte tun sollen. Heims mit Gewalt dazu zu bringen, sein Geld herauszurücken. Nein, ihr Geld!
Trotzig öffnete sie die Tür des alten Küchenbüfetts und holte aus der hintersten Ecke die Flasche mit dem Enzianschnaps von Grassl heraus. Diese Marke hatte bereits ihr Vater bevorzugt, der jede Flasche einzeln erwandert hatte. Zu diesem Zweck war er mit dem Zug nach Berchtesgaden gefahren, und am Ende jeder ausgedehnten Wanderung hatte ein Besuch in der Destillerie gestanden. Eine Weile hatten sieund Volkmar diese Tradition noch fortgeführt, wobei sie natürlich mit dem Mercedes gefahren waren und ihre Wanderungen eher gemütlichen Spaziergängen glichen. Volkmar war sehr schnell ermattet gewesen. Mittlerweile kaufte sie den Enzian im Laden, allerdings hielt sich die große Flasche mehrere Jahre.
Just in dem Moment, als sie sich die klare Flüssigkeit in ein Stamperl goss, hörte sie Annette auf der Treppe. Kurz dachte sie daran, die Flasche und das Glas zu verstecken, aber dann überlegte sie es sich anders. Je weniger klar Annette im Kopf war, desto geringer war die Gefahr, dass sie irgendjemandem etwas über den Mann im Keller verriet. Sie holte also ein zweites kleines Glas aus dem Geschirrschrank und goss es randvoll. Annette erschien in der Tür, und Gudrun musterte sie überrascht. Die Haare ihrer Tochter waren frisch gewaschen und frisiert. Sie hatte Lippenstift aufgelegt, und auch die Augen waren dezent geschminkt.
»Gehst du heute schon wieder zum Literaturzirkel?«, erkundigte sich Gudrun.
Annette schüttelte den Kopf, den Blick fest auf den Schnaps geheftet. Gudrun sah die Gier in den Augen ihrer Tochter und schob ihr das Stamperl hinüber. Doch Annette griff nicht zu, stattdessen verschränkte sie die Arme vor der Brust, als müsse sie sich vor der Versuchung schützen.
»Ich wollte dich um den Schlüssel für die Handschellen bitten.«
Nun begriff Gudrun, warum Annette sich mit ihrem Aussehen so viel Mühe gegeben hatte. Sie hatte es auf den Mann im Keller abgesehen. Wäre die Lage weniger dramatisch gewesen, sie hätte laut gelacht. Natürlich. Ihre arme männerlose Tochter. Sie hatte nach vielen Jahren erstmals wiederKontakt mit einem Vertreter des männlichen Geschlechts. Seit sie von Jürgen weggegangen war, der sie nach Strich und Faden betrogen hatte und regelrecht erleichtert war, dass Annette, die eine weniger gute Partie war, als er angenommen hatte, ihn verließ, hatte diese keinen nennenswerten Kontakt mit einem Mann gehabt. Gudrun war seit geraumer Zeit aufgefallen, dass Annette, kaum dass sie ein bisschen getrunken hatte, in Selbstmitleid darüber zerfloss und versuchte, jedem männlichen Wesen, mit dem sie in Berührung kam, schöne Augen zu machen. Handwerker, Briefträger, Vertreter, ganz gleich, wer hier klingelte, Annette flatterte mit den Augenlidern, kokettierte und bot sich an. Ein widerliches und erniedrigendes Schauspiel war das, fand Gudrun von Rechlin. Nun also hatte sie es auf den Gefangenen abgesehen, der ihren Annäherungsversuchen nicht entfliehen konnte.
»Die werde ich dir nicht geben.«
Annette hob das Kinn. »Ich kann dir weh tun. Das habe ich dir
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