Power and Terror
In China sank die Sterblichkeitsrate drastisch, in Indien blieb sie hoch.
Und auch das ist für ihn ein ideologisches Verbrechen.
Er sieht die Ursache für den Unterschied darin, daß in China ein Gesundheitsdienst für die Landbevölkerung eingerichtet wurde, was zu einer erheblichen Verbesserung der
durchschnittlichen Gesundheit führte. Indien als demokratisch-kapitalistisches Land dagegen tat nichts dergleichen, weshalb sich die Lage der Armen nicht verbesserte. Mit Blick auf die divergierenden graphischen Kurven bemerkt Sen: »Indien scheint alle acht Jahre seinen Schrein mit mehr Skeletten zu füllen, als dies China in den Jahren der Schande [1958-1961]
gelang.«
Ihm zufolge dürften in Indien zwischen 1947 und 1980 etwa 100 Millionen Menschen an mangelhafter Gesundheitsvorsorge gestorben sein. Aber das zählt natürlich nicht als Verbrechen des demokratischen Kapitalismus. Wenn wir diese Rechnung weltweit aufmachten … Aber Sen hat recht, es handelt sich nicht um vorsätzliche, sondern um ideologische, institutionelle Verbrechen, für die die kapitalistische Demokratie und ihre Anhänger in dem Maße verantwortlich sind wie die Anhänger des so genannten Kommunismus für die Hungersnot in China.
Sie tragen nicht die gesamte Verantwortung, aber einen beträchtlichen Teil.
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III. AUS VORTRÄGEN UND
DISKUSSIONEN
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1. »Warum hassen sie uns?«12
Nach dem 11. September taten einige Zeitungen das, was sie schon zuvor hätten tun sollen: Sie untersuchten die öffentliche Meinung im Nahen Osten, um eine Antwort auf George W.
Bushs bestürzte Frage zu finden: »Warum hassen sie uns, wo wir es doch so gut meinen?« Wie kann das sein?
Noch bevor er die Frage stellte, hatte das Wall Street Journal schon einige Antworten parat, wobei es der Zeitung vor allem um die für sie interessante Klientel der »gut betuchten Muslime«
– Bankiers, Rechtsanwälte, Manager von Ablegern
transnationaler US-Konzerne usw. – gegangen war. Diese Leute sind mit dem US-System verbunden und lehnen Usama bin Ladin schon deshalb ab, weil sie im Fadenkreuz seiner Aktionen stehen.
Und wie ist ihre Einstellung zu den Vereinigten Staaten?
Zwiespältig. Einerseits gehören sie ganz selbstverständlich zum internationalen Wirtschaftssystem, andererseits sind sie dagegen, daß die USA fortwährend korrupte und brutale Regimes unterstützen, statt eine demokratische, unabhängige Entwicklung zu fördern. Ebenso kritisch begegnen sie der einseitigen Förderung der israelischen Palästina-Politik durch die USA und den von ihnen verfügten Sanktionen gegen den Irak, die letztlich dem Regime Saddam Husseins nutzen, der Bevölkerung aber schaden.
Und sie haben nicht vergessen, daß Hussein bei seinen gräßlichsten Greueltaten, wie etwa dem Einsatz von Giftgas gegen die Kurden, von den USA und Großbritannien, die ihm auch bei der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen behilflich waren, unterstützt worden ist. Auch in dieser Hinsicht lehnen sie die US-amerikanische Politik ab.
Soweit die Antwort dieser Muslime auf die Frage, »warum sie 62
uns hassen«. Hierzulande liest man meist etwas anderes: Die Muslime hassen unsere Freiheiten, fühlen sich als
Globalisierungsopfer, haben eine »schlechte Kultur« usw.
Wer sich im und mit dem Nahen Osten auskennt, weiß, daß die bisher umrissene Antwort nicht besonders neu ist. Auch wenn man in der Geschichte sehr weit zurückgeht, läßt sie sich finden. Da die USA mit den Jahren, nicht zuletzt als Resultat der Kämpfe von Bürgerrechts- und anderen Bewegungen, ein ungewöhnlich freies Land geworden sind, gibt es hier sehr viel mehr Informationen über hochrangige politische Planungen als in irgendeinem anderen Land der Welt, dazu tonnenweise freigegebene Geheimmaterialien, die zeigen, ’ wie frühere Regierungen ihre Politik geplant und begründet haben.
Im Zusammenhang mit dem Nahen Osten ist 1958 ein
besonders interessantes und kritisches Jahr gewesen. Damals scherte der Irak aus dem angelsächsischen Kondominium über die Energiereserven der Welt aus. Das hatte 1953 bereits der Iran versucht, doch war die konservativ-nationalistische Regierung [unter Führung von Mossadegh] durch einen britisch-amerikanisch gesteuerten Militärputsch gestürzt worden.
Dem Irak gelang jedoch der Schritt in die Selbständigkeit, was zu hektischen politisch-militärischen Aktivitäten führte, die bis zur Erwägung reichten, Atomwaffen einzusetzen. Wenn man wissen will, was die amerikanische
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