Power Down - Zielscheibe USA (German Edition)
Capitana.
Trotz des Auftauchens der Bewaffneten, ungeachtet der Gewalt der vergangenen beiden Tage, rechnete er nicht mit dem, was ihn als Nächstes erwartete. An verschiedenen Stellen auf Deck stapelten sich, mittlerweile spärlich beleuchtet vom Sonnenaufgang im Osten, Leichen übereinander. Dewey zählte mehr als zwei Dutzend. Sein anfängliches Entsetzen wich allmählich blanker Wut. Als sie sich dem Rand der Plattform näherten, sah er weitere Leichen im Wasser treiben. Dann entdeckte er Pablos Leichnam. Er lag mit dem Gesicht nach oben auf dem Deck.
Sie führten ihn in die Krankenstation. Drinnen lag Chaz Barbos regloser Körper in merkwürdig verrenkter Haltung auf dem Fußboden. Sie hatten ihm fast den Kopf weggeschossen.
Die beiden Kerle stießen Dewey zu Boden. Einer von ihnen hatte eine Kette bei sich. Er nahm sie und fesselte ihn an eine Stahlstange am Rand des Raums, sodass Dewey weder fliehen noch sich bewegen konnte. Dann verließen sie das Zimmer und schlossen die Tür.
Völlig benommen hockte Dewey da. Nach mehreren Minuten gelang es ihm, den Lappen in seinem Mund auszuspucken. Er schmeckte Blut.
Nur ein einziges Mal in seinem Leben hatte er sich in einer noch schlimmeren Lage befunden. Damals in Panama. Er gehörte zu denjenigen, die sie früher reingeschickt hatten, die mehr als ein Jahr vor der Operation Just Cause das Ziel verfolgten, Manuel Noriega zu töten. Sie saßen in einem Apartmentgebäude fest, nur ein Stück weit die Straße runter von dem Haus, in dem der Diktator, wie sie wussten, mit einer seiner Geliebten schlief. Ein Junge aus der Gegend hatte Noriegas Leute über ihre Absichten informiert, und was als chirurgische Infiltration geplant war, endete in einer Katastrophe. Noriegas Söldner umstellten das Apartmentgebäude, arbeiteten sich langsam nach innen vor, zogen ihre Kreise immer enger. Sie nahmen Dewey und die vier anderen Deltas seines Teams unaufhaltsam in die Zange. Die Navy half ihnen mit zwei F/A-18-Hornets aus der Patsche, die in einer Höhe von knapp 100 Metern angeflogen kamen und die beiden Gebäude links und rechts des Apartmenthauses, in dem sie sich befanden, mit AGM-65-Raketen einebneten. Zwei Deltas überlebten, einer davon Dewey.
Diesmal konnte ihm die Navy den Arsch nicht retten.
Dewey schloss die Augen und versuchte nachzudenken. War es das, was Mackie versucht hatte, ihm mitzuteilen? Was auch immer Esco plante, er musste seit Jahren darauf hingearbeitet haben. Und aus irgendeinem Grund spielte ein noch lebender und handlungsfähiger Dewey Andreas in ihrem Plan eine Rolle.
Die Pumpstation. Auf dem Meeresboden. Der Schlüssel zu Capitana. Sie brauchten Dewey, um Zugang zur zentralen Förderanlage zu bekommen. Es war der verwundbarste Teil von Capitana, die direkte Verbindung zu den Ölvorräten.
Es gab zwei Möglichkeiten, in die Pumpstation zu gelangen. Erstens: Man benutzte einen in Dallas auf Anweisung des Generaldirektors generierten Code. Zweitens: Man ließ Deweys Augen vom Retina-Scanner am Durchgang zur Pumpstation unten auf dem Meeresboden scannen.
Etwas verriet ihm, dass sie nicht vorhatten, in Dallas anzurufen, um nach dem Code zu fragen.
Dewey hatte Monate damit verbracht, zu lernen, wie man sich als Gefangener verhielt, wie man überlebte, wie man floh. Geriet man in Gefangenschaft, galt es, ruhig zu bleiben und jede Gelegenheit zur Flucht beim Schopf zu packen, wenn sie sich ergab. Ein wie großes Risiko ein Gefangener beim Versuch, Gegenwehr zu leisten oder zu fliehen, auf sich nehmen sollte, hing davon ab, wie hoch die Wahrscheinlichkeit lag, dass man ihn tötete, nachdem er seinen Zweck für die Geiselnehmer erfüllt hatte. Wurde man aus politischen Gründen gefangen gehalten und früher oder später auf freien Fuß gesetzt, übte man sich am besten in Geduld und wartete ab. Bestand hingegen kein Zweifel daran, dass man starb, nahm man bei der ersten sich bietenden Gelegenheit das Heft in die Hand und handelte. Ergab sich keine solche Gelegenheit, musste man gezielt eine herbeiführen.
Er griff in sein Gesicht und wischte sich das Blut aus den Augen. Noch war er nicht tot. Ich will nicht sterben – nicht hier, nicht jetzt. Er dachte an seine Frau und seinen Sohn, beide schon lange tot. Er musste leben. Er musste dafür sorgen, dass sein Sohn, wo auch immer er sein mochte, stolz auf seinen Vater sein konnte.
Er lehnte sich zurück und wartete, bis die Bewaffneten – oder vielmehr die Terroristen – zurückkehrten.
Nach einer
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