Power Down - Zielscheibe USA (German Edition)
ebenfalls nach Amerika und fand einen Job in der Wartungsabteilung eines kleinen Kernkraftwerks in Pennsylvania. Es hieß Three Mile Island.
Genau ein Jahr später wurde der kleine Alexander im Alter von sechs Jahren mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen. Zwar tat ihm niemand etwas zuleide, aber es geschah ohne Vorwarnung und war gründlich geplant wie eine Entführung. Anders als bei einer Entführung hatte allerdings sein eigener Vater den Plan ausgeheckt, und Binda führte ihn aus. Er holte ihn um halb vier Uhr morgens. Binda erstickte seine Schreie, indem er ihm ein Taschentuch in den kleinen Mund stopfte. Als Alexander Stunden später, als bereits die Dämmerung anbrach, aufhörte zu zappeln und zu schreien, verabreichte Binda dem Kind ein Beruhigungsmittel. Es war lediglich Valium, aber das Geheul hörte auf.
»Es muss auf diese Weise geschehen«, hatte Aswan an jenem Abend mit dem Wein gesagt. »Nicht anders. Brutal und unerwartet, auf gar keinen Fall schrittweise.« Mohammed und seine Frau Calla mussten Alexʼ Eltern werden, nicht länger nur auf ihn aufpassen. Dazu musste man ihn aus dem Schoß der Familie reißen. »Du musst ihn lieben wie einen Sohn, Mohammed. Kannst du meinen Sohn lieben? Können du und Calla ihn so aufziehen, wie Rhianne und ich es getan hätten?«
»Das können wir. Und das werden wir!«
»Weißt du, ihn liebe ich von all meinen Kindern am meisten. Aber ich kann ihm nicht sein Zuhause wegnehmen. Das müsst ihr tun. Auf diese Weise opfere ich alles für unsere Sache, davon werde ich mich nie mehr erholen.«
Sich so verstecken, dass einen jeder sehen kann, dachte Aswan an jenem entsetzlichen Morgen, nachdem Alexander verschwunden war und er zitternd in seinem Schlafzimmer stand. Tränen liefen ihm übers Gesicht, während er Nebuchar umarmte, der ebenfalls weinte, und Mattie, die völlig außer sich und hysterisch wirkte.
So hatte alles angefangen.
In Bethesda wohnten sie in einem weitläufigen, schindelgedeckten Landhaus mit marineblauen Fensterläden und einem niedrigen, weiß gestrichenen Palisadenzaun. In dem großen Garten lernte Alexander von den Nachbarkindern, wie man American Football und Baseball spielte.
Er sah Calla unheimlich ähnlich. Aus unerfindlichen Gründen teilte er mit ihr die gerade, wunderschöne Nase, und das, obwohl sie nicht miteinander verwandt waren. Mit zehn Jahren brachte er es bereits auf 1,80 Meter Körpergröße und sah erstaunlich gut aus. Mit zwölf küsste ihn ein Mädchen aus der Nachbarschaft, die Tochter eines in Washington stationierten französischen Diplomaten, auf den Mund. Im gleichen Jahr kam es in der Schule zu einer Rauferei mit einem Jungen namens Kevin, der darauf bestand, Alexander habe ihn auf dem Flur angerempelt. Kevin brach Alexander mit einem Faustschlag die Nase. Doch als Alexander sein eigenes Blut sah und schmeckte, rastete er aus und bombardierte den Schläger mit seinen Fäusten. Dabei brach er dem Jungen nicht nur die Nase, sondern schlug ihm gleich noch zwei Schneidezähne aus.
Bald fand Alexander Gefallen an Erdbeereis, Kaffee, Mädchen und Lesen, besonders Ernest Hemingway mochte er. Er wurde als Mitglied der Episkopalkirche erzogen, denn es gehörte zum Plan, dass er sich integrierte. Er hatte viele Freunde. Sein bester Kumpel, George, war der Jüngste aus einer Brut von vier Nachbarsjungen. Sie spannten eine Schnur zwischen den beiden großen Häusern, an deren Enden sich jeweils eine Blechdose befand, damit sie sich miteinander unterhalten konnten. Eine Art primitives Walkie-Talkie. Sonntags ging er mit George, manchmal auch in Begleitung von dessen älteren Brüdern, in die Connecticut Avenue zum Kino, um die Nachmittagsvorstellung zu besuchen. Zusammen mit George trank Alex sein erstes Bier. Als Georges Vater von General Electric versetzt wurde und die Familie zurück nach Kansas zog, wurde das zum niederschmetterndsten Ereignis in Alexʼ jungem Leben.
Er besaß keine Erinnerungen an die Nacht, die ihn aus seinem gewohnten Zuhause im Libanon riss. Aswan empfand er als eine Art von Traumvater, an den Alex sich, wenn er allein war, nur in nebelhaften Bildern erinnerte. Sie lösten ein warmes Gefühl in ihm aus, das er noch nicht einmal sich selbst gegenüber in Worte zu fassen vermochte. Das Gesicht seiner wirklichen Mutter vergaß er nie, doch alles andere wirkte irgendwie verschwommen. Hatte es diesen anderen Vater wirklich gegeben? Hatte er jemals dort gelebt, in dieser wunderschönen Stadt, die nach Ozean
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