Power Down - Zielscheibe USA (German Edition)
Stopp-Taste auf der Konsole zu drücken. Doch etwas tiefer Liegendes trieb ihn weiter voran. Zuletzt zählte er die Sekunden, während der Entfernungsmesser auf die Markierung zukroch. Bei 4:29 erreichte er die Marke. 1,8 Kilometer. Fortuna angelte nach vorn, drückte die Pfeil-nach-unten-Taste, um das Laufband eine Stufe langsamer zu schalten, und stellte einen 5:30er-Schnitt ein. Die nächsten Kilometer würde er in entspannteren Tempo zurücklegen.
Doch während er rannte, musste er immer wieder an Esco denken. So sehr er sich bemühte, den Gedanken zu verdrängen, es gelang ihm nicht. Zum ersten Mal war er Esco vor über zehn Jahren begegnet. Esco, damals 30, hatte als Lehrer in Kalkutta gearbeitet und gerade seine Stellung gekündigt. Sie lernten sich auf der Krim kennen, in einem Hisbollah-Trainingscamp, in das sein Vater ihn geschickt hatte. Über ein Jahr lang teilten sie sich ein Zelt, ehe Fortuna den Job in Wharton antrat. Auf der Krim wurde ihnen beigebracht, wie man strategisch plante und eine Terrorzelle aufbaute. Dort lernten sie, zu kämpfen und zu töten. Er erinnerte sich an Escos herzliches Lachen, an sein ausgeglichenes Wesen und sein systematisches Kalkül.
Fortuna versuchte, mit den Schmerzen, die ihm das Laufen bereitete – im Kopf, in der Lunge, in den Beinen –, den Zorn, den er gerade empfand, und die Trauer um den Verlust seines Freundes zu tilgen. Zu guter Letzt fand er einen Weg, die in ihm brodelnden Emotionen für seinen Waffenbruder zu kontrollieren. Er empfand schlicht und ergreifend Wut, einen tiefen, anhaltenden Groll, der immer mehr anwuchs und seinen ganzen Körper in Besitz nahm. Der Zorn übermannte ihn, während er weiterlief, noch schneller als vorhin. Er kitzelte alles aus sich heraus, während sich sein Hass in einem einzigen Wort kanalisierte: Andreas.
21
CAMPO SHAR-AL-NES
BROUMANA, LIBANON
VOR 31 JAHREN
Die dreieinhalbjährige Mattie kletterte langsam zu dem alten, knorrigen Wacholderbusch, setzte sich hin und steckte den Daumen in den Mund.
»Wenn du dich dort versteckst«, sagte Alexander, »wird Nebbie dich nicht finden. Versteck dich hinter dem Wacholder. Ich rette dich dann. Aber iss bloß keine von den Beeren.«
»Ist es so richtig?«, flüsterte sie.
»Perfekt.«
Unten am Hang konnte Alexander die Häuser am Rande des Karuus-Lattimer-Flusses ausmachen. Es war so heiß, dass die Dächer in der Hitze flimmerten und zu schmelzen schienen. Er lächelte. Bald trafen die anderen ein. Es wurde Zeit, sich zu verstecken.
In jenem Sommer verschmolzen in Broumana Tag und Nacht zu einer nicht enden wollenden Anballung von Hitze. Oberhalb des Karuus-Lattimer sprenkelten erste rote Flecken die reifenden Wacholderbeeren. Selbst in ihrem orangefarbenen Kleidchen würden sie Mattie dahinter nur schwer erkennen. Er ging davon aus, dass Nebbie sie irgendwann fand, aber das konnte eine Weile dauern. Sie war ein Opfer.
Ein Stück weit den Hang hinunter entdeckte Alexander den Felsen. Er war ihm früher schon aufgefallen und er hatte ihn sich gemerkt. Eine merkwürdige Gesteinsformation, die sich waagrecht über die Böschung erstreckte und von der Form an eine liegende Frau erinnerte. Hier, das wusste er, würde Vater ihre Habseligkeiten abstellen: den alten Weidenkorb mit dem Mittagessen, einen Krug Wasser und die Gebetsdecken.
Vom Dorf her drangen Stimmen heran, immer noch gut fünf Minuten entfernt. Er zog seine Kleidung aus, komplett, rollte sie zusammen und stopfte sie in ein kleines Loch, das er gegraben hatte. Anschließend bedeckte er das Ganze mit trockener Erde.
Er legte sich in den kochend heißen Staub und biss die Zähne zusammen. Langsam wälzte er sich den Hügel hinab, drehte sich dabei mehrere Male um die eigene Achse. Er schmeckte die Erde in seinem Mund.
Die Stimmen wurden lauter, gefolgt von Sandalen, die über den Hang knirschten. Alexander kroch den Hügel wieder nach oben, schmiegte sich unter einen Wulst an der Seite des großen Felsbrockens und klemmte den Kopf in den Schoß, sodass nur noch die glatte Oberfläche seines braunen, staubbedeckten Rückens erkennbar war. Er hatte sich in einen Teil des Steins verwandelt.
»Wir sind da«, sagte Aswan, Alexanders Vater.
Alexander hörte, wie ein Beutel auf dem Boden abgestellt wurde. Ein Prickeln durchlief seinen ganzen Körper. Er rührte sich nicht. Sie stellten den Beutel so dicht neben ihn auf den Felsen, dass er einen leichten Luftzug spürte, als sie ihn öffneten.
»Ich habe so viel Hunger,
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