PR Action 16 Tarkalons Abgrund
weiß nicht, welches Bild du bisher von deiner Mutter gehabt hast, Tanisha«, sagte Betty. »Du kannst mir davon erzählen, wenn du willst. Es könnte aber sein, dass du ihr Leben nicht in allen Einzelheiten gekannt hast.«
Die Mutantin stockte. In Tanishas Augen, die wie zwei glänzende schwarze Marmor murmeln aussahen, stand die nackte Angst. Bettys Herz zog sich zusammen. Wie gerne hätte sie das Mädchen in diesem Moment an sich gedrückt, ihm den Schutz gegeben, den es benötigte. Doch zwischen ihnen stand eine Mauer, die nur Tanisha niederreißen konnte.
»Die Nertisten haben deine Mutter Silmi bewundert, Tanisha. Sie hat vielen von ihnen das Leben gerettet.«
Abwehrend schüttelte das Mädchen den Kopf. »Das stimmt nicht! Mutter hat die Minenhunde geheilt oder manchmal jemanden aus der Stadt. Aber keine Nertisten!« Das letzte Wort spie sie aus, als ob es ein ungenießbarer Bissen wäre.
»Ist dir nie aufgefallen, dass deine Mutter häufig in der Nacht geweckt wurde, weil jemand dringend Hilfe benötigte?«
»Doch, aber ...« Tanishas Mund blieb offen stehen. Es war ihr deutlich anzusehen, wie die Gedanken in ihrem Innern mahlten.
»Nertisten sind nicht allesamt schlechte Menschen, Tanisha. Geistig Kranke wie diesen Dussan gibt es leider überall. Kriege und großes Leid können aus Menschen Monster machen. Aber das heißt nicht, dass alle Nertisten so sind. Wenn deine Mutter aus Überzeugung geheilt hat, hat sie nicht nach der politischen Gesinnung des Patienten gefragt, sondern ihm geholfen, so gut es eben ging.«
Betty atmete zweimal ruhig ein und aus und sagte dann flüsternd: »Für die Nertisten war Silmi eine Heilige, weil sie vielen von ihnen das Leben gerettet und im Gegenzug nichts erwartet hat.«
Tanishas Kinn zitterte, dann traten die ersten Tränen aus ihren Augen und kullerten die Wangen hinunter.
Betty fasste sich ein Herz und rutschte näher zu dem Mädchen heran. Sachte legte sie einen Arm um seine Schultern. Nicht zu stark, nicht zu fordernd.
Stoß mich nicht weg, dachte sie fast flehend.
Und Tanisha stieß sie nicht weg, sondern weinte nur leise im Gedenken an ihre Mutter.
7. - 26. August 2159 mittags
Der Tag war zu heiß und zu staubig.
Silmi strich sich den Schweiß von der Stirn. Sie ärgerte sich über die drückende Schwüle und das penetrante Brummen einer Pirrda - der tarkalonischen Ausgabe einer terranischen Fliege -, die unentwegt gegen das Plexiglas ihres Küchenfensters flog.
Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und blickte auf den knorrigen Baum, der direkt vor dem Fenster stand. Am Vortag war er noch nicht da gewesen.
Irgendwie mochte sie ihn, den Baum. Er wirkte verkümmert, war es wahrscheinlich auch, so allein, wie er hier draußen stand. Weitab von dem nährenden Wasser aus einem Bach oder Fluss.
Silmi konnte es ihm so gut nachfühlen. Auch sie wusste sich weit weg von all dem, was sie hätte nähren, ihr hätte guttun können. Stattdessen wachte sie jeden Morgen auf einem Planeten auf, der nahm. Immer nur nahm - und nie gab.
Ihr Kopf dröhnte. Sie hob das Glas mit der braunen Flüssigkeit an ihre Lippen und leerte es in einem Zug. Der Dorrek brannte angenehm, während er ihre Kehle hinabrann. Der intensive Geschmack des selbst gebrannten Schnapses breitete sich in ihrem Gaumen aus, stieg in den Kopf bis in die äußersten Gehirnwindungen. Vertrieb dort die mühsamen Gedanken.
Einen Kater vertreibt man am besten mit demselben Gift, das für ihn verantwortlich ist. Dieses terranische Bonmot hatte auch auf Tarkalon Bestand. Gerade hier.
Silmi betrachtete wieder den einsamen Baum.
Es wäre schön, wenn die Minenhunde diesmal etwas länger verweilten, bevor
ihre Häuser wieder an die Haken nehmen und weitertransportiert würden. Sie würde gern weiterhin in der Nähe dieses Baumes bleiben. Auch wenn es seltsam sein mochte, dass ausgerechnet diese halb verdorrte Gewächs ihr etwas von ihrer Einsamkeit würde nehmen können.
Ein dumpfes Pochen erklang in Sil-mis Rücken.
»Tanisha«, sagte sie mit müder Stimme, »hör auf, gegen die Stuhlbeine zu treten. Ich habe heute nicht genügend Nerven, um das auszuhalten!«
Das Pochen verschwand für einen Moment, dann kam es mit erhöhter Intensität wieder zurück.
Silmi fuhr herum und musste sich wegen der zu raschen Bewegung kurz am Vorratsschrank festhalten, bis der Schwindel wieder verschwunden war.
»Tanisha!« Sofort bereute sie es, die Stimme erhoben zu haben. Ihr Kopf schien zu explodieren.
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