PR Lemuria 04 - Der erste Unsterbliche
aufzuzwingen. Hm. Aber durfte er sich wirklich darauf verlassen? Beide Male, an denen er die Macht bisher in sich hatte erwecken können, hatte er sich in einer Ausnahmesituation befunden. Auf dem Vorgipfel hatte ihn Rautsh mit dem Tode bedroht, war drauf und dran gewesen, ihn mit einem Stein zu erschlagen. Später, in der Höhle, hatte Boryk nackte Verzweiflung übermannt, weil der Matekten ihn, todmüde, halb verhungert und verdurstet, und trotz seiner Verletzungen und seines verstauchten Knöchels, wieder hinaus in die Bergwildnis schicken wollte.
War es ihm überhaupt gegeben, das klare Fieber einfach so hervorzurufen? Mutwillig, auch wenn er nicht bis zum Hals in Schwierigkeiten steckte?
Boryk schloss die Augen, horchte in sich hinein.
Nichts...
Oder nein, doch, da war etwas! Tief unten, am Urgrund seines
Seins, flackerte eine winzige Flamme, kaum mehr als ein Glutfunke. Und doch barg dieses Flämmchen immenses Potenzial, beinhaltete es das Versprechen einer gewaltigen Feuersbrunst. Er konzentrierte seine Willenskraft, versuchte die Flamme anzufachen. Und es gelang! Hitze stieg in ihm auf, kochte hoch, pulsierte wie Lava in seinen Venen. Stärker als je zuvor glühte Boryk, selbst überrascht, ja überwältigt von der Macht seines Begehrens. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er es nicht mehr stoppen oder auch nur ein wenig drosseln können. Als sei ein Damm geborsten, schwappte das Fieber über ihn hinweg, und alle Hemmungen spülte es fort.
Breitbeinig stand Boryk da, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und rief: »Wacht auf und tretet heraus aus euren Hütten, Leute vom See! Boryk aus dem Garten Ehedem ist vom Himmel zu euch herabgestiegen, damit ihr ihn feiert, ihm huldigt und ihm dient!«
Und sie gehorchten.
Drei Tage und Nächte dauerte das Fest, denn so lange ebbte Boryks Fieber nicht ab. Er aß und trank, wie er noch nie gegessen und getrunken hatte, ließ sich verwöhnen auf jede erdenkliche Weise; doch er schlief nicht, nicht eine Minute.
Die Menschen, die entlang des Seeufers wohnten, nannten sich Geneser. Der Brauch der Heiligen Queste war ihnen bekannt, doch übten sie ihn seit Längerem nicht mehr aus. Das hing wohl auch damit zusammen, dass in ihren Siedlungen eklatanter Frauenüberschuss herrschte, gerade umgekehrt wie im Garten Ehedem, wo auf eine Frau sechs, sieben Männer kamen. Da Jungen hier so rar waren, wollte man sie nicht den Gefahren des Gebirges aussetzen, und an Stelle der Mannwerdungs-Rituale veranstaltete man zur Frühlingssonnenwende eine Bootsprozession.
Boryk schnappte diese Informationen nebenbei auf, während er sich den Freuden des orgiastischen Festes hingab. Er gewann nicht den Eindruck, dass sich die Geneser und Geneserinnen sonderlich gegen seine Wünsche sträubten. Sie schienen im Gegenteil förmlich auf ihn gewartet zu haben. Er brauchte sie keineswegs ständig zu beeinflussen; das Allermeiste taten sie freiwillig, ja mit großer Begeisterung. Die Mädchen und Frauen rissen sich darum, ihm zu
Willen sein zu dürfen. Die Väter führten ihm ihre Töchter zu, die Ehemänner ihre Gemahlinnen, und alle fühlten sich geehrt, wenn er sie auswählte und beglückte. Dutzende beschlief Boryk, und nie versagte seine Manneskraft.
Am Ende des dritten Tages spürte er, dass der Rausch nachzulassen begann, und er schickte die Geneser mit dem Auftrag, alles Vorgefallene zu vergessen, in ihre Hütten zurück. Er stieg etwa zwei Stunden bergan, fand eine geschützte Stelle und fiel sofort in tiefen, traumlosen Schlaf.
Der Kater, der ihn heimsuchte, als er wieder zu Bewusstsein kam, hatte eine Intensität, die der des Fieberfests entsprach. Nie hatte Bo-ryk etwas nur annähernd so Grauenvolles durchlitten; nie hatte er sich derart schlecht gefühlt.
Er bereute zutiefst, was er getan hatte. Es gab keine Entschuldigung dafür. Dass er wie von Sinnen gewesen war, außer sich, nicht er selbst, konnte man nicht sagen. Nein, die ganze Zeit über hatte er sich seiner selbst bewusster, authentischer, echter gefühlt denn je. Der wahre Boryk war zum Vorschein gekommen, der Mann und Gebieter, machtlüstern, herrschsüchtig, egoistisch und rücksichtslos. Gut, die Geneser hatten es ihm erschreckend leicht gemacht; aber das war keine Ausrede. Er hatte ein abscheuliches Verbrechen begangen; hatte nicht bloß eine Frau, nicht bloß ein Mädchen missbraucht, sondern ein ganzes Dorf! Was immer die Schöpfergottheit mit der Heiligen Queste bezweckt hatte - das konnte es wohl nicht
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