PR NEO 0039 – Der König von Chittagong
Regentropfen fielen; sie versickerten rasch im Boden. Es schien, als würden sich die Wolken verziehen und die Himmelspforten für heute geschlossen bleiben. Doch das war ein Trugschluss. Der Sturm kam mit unglaublicher Vehemenz daher. Es blieb Kakuta nichts anderes übrig, als den wenigen anderen Menschen am Strand, die er erblickte, hinterherzulaufen und nach einem Unterschlupf zu suchen.
Wuriu reagierte nicht auf seine Anrufe. Womöglich war die Mobilverbindung durch den Starkregen gestört; dies wäre nichts Außergewöhnliches. Die Funknetze in und rings um Chittagong waren löchrig, die Betreiber unzuverlässig.
Mehrere Chittagonger beäugten ihn misstrauisch. Sie verbargen die Köpfe unter weiten, tellerartigen Hüten, deren Form an alte Traditionen angelehnt war, die aber aus schäbigem Kunststoff bestanden. Sie wollten ihn nicht bei sich haben, hier, auf diesem überdimensionierten Müllgelände einer ehemaligen Werft. Hier, wo sich jedermann weit über den Rand der Legalität hinausbewegte. Sie stahlen, was nicht niet- und nagelfest war.
»Ich habe nichts mit der Polizei zu tun«, sagte Kakuta laut und fügte, einer Eingebung folgend, hinzu: »Und auch nichts mit Bankim Chandra.«
Wiederum steckten die Chittagonger die Köpfe zusammen und redeten aufgeregt. Die Worte waren trotz der Hilfeleistung des Translators nicht zu verstehen. Der Regen prasselte seit einer Viertelstunde mit unverminderter Wucht gegen das schräg gestellte Blechdach über dem Erdloch, in dem sich mehr als drei Dutzend Kinder, Frauen und Männer zusammengefunden hatten. Das Wasser rann seitlich herab, sie blieben weitgehend trocken und geschützt.
»Ich bin hier, weil ich einen Freund suche«, fuhr Kakuta fort. »Er stammt aus Nippon wie ich, trägt allerdings eine Stachelfrisur und ist etwas größer.« Er hielt die Hand vor den Bauch. »In jeder Beziehung größer.«
Zwei Kinder kicherten, die anderen Chittagonger blieben reserviert.
»Wir haben uns vor dem Beginn des Unwetters aus den Augen verloren. Wir waren eben an Bord des Fischkutters mit dem roten Rumpf.« Kakuta deutete in die Richtung des Schiffs. »Wir hatten jemanden besucht. Ein Kind, etwa so alt wie du.« Er nickte in Richtung des Jüngsten im Unterschlupf. »Er heißt Sandhya. Ihr kennt ihn sicherlich.«
Er sah die Menschen an. Einen nach dem anderen. Er begegnete Unverständnis. Misstrauen. Ablehnung. Niemand gab zu erkennen, dass er mit dem Namen »Sandhya« etwas anzufangen wusste.
»Ich rede von dem Jungen im Schiff, der etwas schüchtern ist und meist allein bleibt. Er hat einen hässlichen Hund bei sich, etwa unterarmlang, mit einer leichten Verletzung am Bauch.«
Wiederum keinerlei Reaktion. »Du hast hier nichts zu suchen, Fremder!«, sagte schließlich ein Mann mit Falten im Gesicht, die wie die Fäden eines Spinnennetzes rings um den Mund gezogen waren. »Wir kennen keinen Sandhya, und wir haben auch deinen Freund nicht gesehen. Du verschwindest von hier, sobald der Regen nachgelassen hat. Verstanden?«
»Nur die Ruhe.« Kakuta hob beschwichtigend die Hände. »Ich will euch nichts zuleide tun. Es interessiert mich nicht, was ihr hier treibt. Ich sorge mich bloß um meinen Begleiter.« Er entdeckte zwei Jugendliche, die einen Ball zwischen sich hielten, der aus Kleiderresten zusammengenäht war. »Habt ihr heute in der Nähe des Schiffs gespielt?«
Die beiden nickten simultan.
»Wuriu – mein Freund – ist zu einem von euch gekommen und hat euch nach Sandhya gefragt. Ihr werdet euch sicherlich daran erinnern.«
»Nein«, sagte der Größere der beiden. »Es war niemand bei uns.«
»Wahrscheinlich ist dein Kumpan bei den Huren gelandet.« Der Alte mit den Falten lachte. »Er wäre nicht der Erste, der sich verirrt und sich zufällig im Haus der Wonnen wiedergefunden hätte.« Er schwenkte einen Arm in Richtung Norden. »Such dort nach ihm.«
»Ihr versteht nicht«, nahm Kakuta einen neuerlichen Anlauf. »Wuriu und der Junge sind aus dem Schiff verschwunden, wie von Geisterhand verschluckt. Es war leer, als ich nach ihnen suchte. Es gibt keine Gründe für ihn und vor allem nicht für das Kind, das Haus der Wonnen aufzusuchen.«
»Dort gehen Achtjährige ein und aus«, sagte eine Frau. Ihre Augen waren weit aufgerissen, die Zähne vom Cocabetta-Kauen braun gefärbt und löchrig.
Es war die Selbstverständlichkeit, mit der die Chittagonger ihr Elend hinnahmen, das Kakuta am meisten erschreckte. Da war kein Aufbäumen gegen ihr Schicksal,
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