PR NEO 0039 – Der König von Chittagong
keine Lust und keine Kraft zum Kämpfen.
Steht endlich auf!, wollte er sagen, wehrt euch gegen diese Verbrecher, die euch die Kinder und euer Leben nehmen!
Doch er ließ es bleiben. Er hatte kein Recht, derartige Dinge zu sagen. Schließlich hatte er selbst lange Zeit ein Spiel von Macht und Unterdrückung mitgestaltet, war selbst auf der Seite der »Bösen« gestanden.
Das Trommeln auf dem Dach hörte von einer Sekunde zur nächsten auf. Nur noch vereinzelte Tropfen klatschten auf das gewellte Metall. Die Stille war unheimlich. Keine Möwe krächzte; der städtische Lärm, normalerweise von hier aus als Klangteppich zu vernehmen, war ebenfalls nicht vorhanden. Die Chittagonger hatten sich während des Unwetters allesamt in die Sicherheit ihrer Häuser, Zelte, Unterschlüpfe und Erdlöcher zurückgezogen. Es würde eine Weile dauern, bis alles wieder seinen normalen Weg nahm.
Der Alte mit dem Faltengesicht zog sich an einem Strick hoch und kletterte ins Freie, rasch gefolgt von den anderen. Ringsum lagerten jene Fundstücke, die sie gestohlen hatten. Sie nahmen die Trümmer auf, packten ihr Werkzeug zusammen – meist Hammer und Meisel – und machten sich wieder an die Arbeit.
Kakuta drängte sich an den Chittagongern vorbei und ging schnurstracks auf den Alten zu. Er packte eben einige zusammengeschnürte Fundstücke, darunter der rostige Motor eines Winz-Generators, auf seinen gebeugten Rücken und wollte davoneilen.
Kakuta hielt ihn zurück, nahm ihn beiseite und sagte leise: »Du scheinst ein schlaues Kerlchen zu sein. Du wirst von deinen Kumpanen geachtet, sie hören auf dich. Und das, was du auf dem Rücken trägst, bringt dir wohl mehr ein als das Zeug, das sie gefunden haben.«
»Was willst du von mir?« Zorn blitzte in den Augen des Mannes auf. Doch das Zittern der Hände verriet ihn. Er wollte die Angst übertünchen, die ihn beherrschte.
»Ich möchte die Wahrheit wissen. Ich möchte meinen Freund wiederfinden. Und ich glaube, dass du mir helfen kannst.«
»Ach ja?«
»Mir vertraut man nicht. Dir schon. Du wirst dich in meinem Namen schlau machen und dich nach meinem Freund umhören. Sobald du etwas in Erfahrung gebracht hast, kommst du zur christlichen Mission und verlangst nach mir.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil ich dich dafür bezahlen werde. Sehr gut sogar.«
Kakuta zog einen Geldschein aus seiner Hosentasche. Er war nass geworden; doch das scherte den Alten nicht. Der blickte den 100-Taka-Schein an und grunzte überrascht. »Das ist ...«
»Das ist ein kleines Vermögen für dich, nicht wahr? Stell dir vor, was du dir damit kaufen könntest. Alles, was du tun musst, ist, einige Fragen zu stellen und herauszufinden, was mit Wuriu geschehen ist. Wirst du das für mich machen?«
Der Alte leckte sich über die Lippen. Blickte nach links und nach rechts, ob sich nur ja niemand um sie kümmerte, und sagte dann: »Ja.«
»Dann sind wir uns einig.« Kakuta zerriss den Schein in zwei Hälften und reichte seinem Gegenüber eine. »Die zweite bekommst du, wenn du zur Mission kommst.«
»Wenn jemand deinen Freund gesehen hat, bekomme ich es heraus. Das verspreche ich.« Der Alte steckte die halbierte Banknote hastig ein, deutete eine Verbeugung an und watschelte mit seiner Beute auf dem Rücken, zum riesigen Loch im Zaun, an dem sich nach dem Ende des Regengusses ein Menschenstau gebildet hatte.
Kakuta drehte sich im Kreis und sah sich um. Er würde weitere halbe Banknoten in Umlauf bringen und weitere Informanten kaufen. Geld spielte keine Rolle.
»Wo seid ihr bloß abgeblieben?«, fragte er ratlos und setzte seine Suche fort.
Die Mission blieb für ihn geschlossen. Der französische Pater weigerte sich, ihn zu empfangen. Er ließ Kakuta von zwei bärbeißigen Bangladeschern ausrichten: »Ich kenne Sie nicht, und ich werde meine Zeit nicht mit irgendwelchen Touristen vergeuden, die bloß darauf aus sind, exotische Motive zu knipsen.«
Ein Bestechungsversuch zeitigte keinen Erfolg. Die beiden Männer wirkten nicht sonderlich gottesgläubig; doch sie besaßen Hände wie Bratpfannen, und sie schienen geübt darin zu sein, ihre natürlichen Waffen auch einzusetzen.
»Ich könnte dich in deiner Kemenate besuchen, Bruder Andreas, und dir den Schrecken deines Lebens verpassen«, sagte Kakuta zu sich selbst.
Doch er würde es nicht tun. Aus Gründen, die ihm selbst nicht ganz klar waren, respektierte er den Mann dieses westlichen, etwas seltsamen Glaubens. Also würde er im Schatten
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