PR NEO 0039 – Der König von Chittagong
einem beliebigen Weg, weg vom dreistöckigen Hauptgebäude, dem Tempel, in dem John Marshall residierte. »Ich habe mich in meinem Leben stets beengt und eingeklemmt gefühlt«, plapperte sie weiter. »Gefangen zwischen den Ruinen einer sterbenden Stadt und in ein viel zu kleines Zimmer gepackt. Selbst in meinem eigenen Körper hatte ich zu wenig Platz!«
Sue löste sich wieder und betastete ihren neuen Arm. Nein, sie träumte nicht. Er war tatsächlich da!
»Ich machte mir oft Gedanken darüber, wie mein Leben verlaufen würde. Ich wollte gemeinsam mit John Marshall den anderen Kindern im Shelter helfen, sie von der Straße wegbringen. Ihnen etwas zu Essen geben und ihnen einen sicheren Unterschlupf bieten, so, wie ich ihn gefunden hatte. Mein Horizont reichte grad bis zum übernächsten Block. Dort verlief die Grenzlinie zu einer Gated Community. Dort lebten Kids mit Spielsachen. Solche, die sich die richtigen UV-Blocker leisten konnten, wenn sie im Freien spielten.« Sue deutete in Richtung eines Ferronen. »Sie waren mir fremder als diese da oder als Fantan-Leute.«
Quiniu öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, brachte aber kein Wort hervor.
»Und nun sieh dich um: Da ist diese unglaubliche Weite. Ich kann kilometerweit ins Land hineinschauen, und wenn ich möchte, mache ich einen Ausflug ins Blaue. Es gibt keine Grenzen mehr, auf die ich achten muss!« Sie tippte gegen ihre Stirn. »Auch die Blockaden da drin sind aufgehoben, Quiniu. Ich kann an Dinge glauben, die mir noch vor kurzer Zeit unvorstellbar erschienen.«
Die Lippen der Halbarkonidin bebten. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie ein einziges Wort hervorpresste. Sie sagte: »Gar...ten.« Und noch einmal, diesmal mit festerer Stimme: »Garten.«
Sue blieb ruhig stehen und wartete mit angehaltenem Atem. War dies der Durchbruch, auf den John Marshall gehofft hatte? Reichte ein morgendlicher Spaziergang durch das Gelände des Lakeside Institute, um Quinius Zunge zu lösen?
Nein. Denn die Halbarkonidin rutschte zurück in diesen seltsamen Zustand der Selbstversunkenheit, in eine autistische Scheinwelt, um mit trippeligen Schritten weiterzugehen, ohne Weg und ohne Ziel.
Sue eilte an ihre Seite. Verzweifelt wollte sie zurückholen, was sie eben geglaubt hatte, gefunden zu haben. Einen Anhaltspunkt, der ihr Zugang zu Quinius Geist geben würde.
Sie tat etwas, wovor sie normalerweise und aus gutem Grund zurückscheute: Sie drang in den Kopf ihrer Begleiterin vor, in dieses neuronale Netzwerk, in dem winzigste Fünkchen von einem Ort zum nächsten sprangen, Verknüpfungen entstanden und sich so rasch wieder lösten, dass es kaum nachvollziehbar blieb. Das Gehirn der Frau war, wenn sie es richtig deutete, höchst aktiv. Es gab keine Schädigungen, keine falschgeleiteten Impulse. Und vor allem nichts, was Sue sich getraut hätte, mithilfe ihrer Gabe zu verändern.
»Du bist völlig normal«, sagte Sue leise. »Ich glaube, du willst bloß nicht mit uns sprechen. Vielleicht existiert eine Blockade, die ich nicht wahrnehmen kann. Oder aber du fürchtest dich vor der Realität. Weil du weißt, dass dich die Wirklichkeit töten könnte.«
Quiniu summte den Beginn einer Melodie. Bückte sich, zupfte Grashalme und steckte sie sich in den Mund. Einen Käfer, der sich darauf festklammerte, setzte sie vorsichtig auf dem Boden ab. Sie gab durch nichts zu erkennen, dass sie Sues Worte wahrgenommen hatte.
»Na schön. Dann hältst du eben den Mund. Ich rede ohnedies für zwei. Meint zumindest Sid. – Du kennst doch Sid? Der Teleporter. Ein bisschen behäbig ist er, aber ein richtig netter Kerl. In letzter Zeit wirkt er traurig. Ich sollte endlich das Gespräch mit ihm führen, um das er mich gebeten hat. – Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, mit einem Burschen zu reden? Sie wissen rein gar nichts über Mode, stell dir das mal vor! Wenn ich ihn frage, was er von diesem Parfum oder von jener Bluse hält, sieht er mich bloß blöd an. Was soll man von so einem Menschen halten. Hm?«
Sue zog Quiniu mit sich. Sie plapperte weiter, und irgendwie fühlte sich das gut an. Die Frau nervte nicht mit typischen Erwachsenenfragen, und womöglich hörte sie sogar zu. Konnte man sich denn mehr von einer Freundin erwarten?
»Das da ist Mirage. Sie nennt sich selbst so, und niemand kennt ihren eigentlichen Namen. Wahrscheinlich nicht mal sie selbst.« Sue streichelte über den Wuschelkopf der Sechsjährigen und reichte ihr ein Gänseblümchen, dessen Kopf
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