PR NEO 0039 – Der König von Chittagong
noch grün war. »Wir haben sie in einem Flüchtlingslager im Jemen gefunden. Sie sollte gesteinigt werden. Sie jagte den Lagerinsassen Angst ein.« Sie beugte sich hinab und flüsterte der Kleinen ins Ohr: »Kannst du Quiniu zeigen, was du draufhast?«
»Ich kann gar nichts«, antwortete Mirage. »Ich bin gar nichts.« Sie wandte sich ab und lief davon, zu einer mütterlich wirkenden Frau, die sie in Empfang nahm.
Die Frau nickte in Sues Richtung und zuckte bedauernd mit den Schultern, bevor sie sich umdrehte und das kleine Mädchen in eine isoliert dastehende Wohneinheit brachte.
»Mirage ist traumatisiert, womöglich für den Rest ihres Lebens. Man hat ihr schlimme Dinge angetan, über die sie nicht reden möchte. Als wir sie entdeckten, war sie drauf und dran, sich an ihren Peinigern zu rächen. Ein Mann starb. Er griff sich ans Herz und fiel dann einfach um. Als man ihn aufheben wollte, zerbrach er beinahe in den Händen seiner Helfer. Er war binnen kurzer Zeit um Jahrzehnte gealtert, zum Greis geworden.« Sue reichte Quiniu das Gänseblümchen. »An guten Tagen bringt sie Blumen zum Erblühen. An schlechten lässt sie sie verwelken.«
Sue schnappte ihre Begleiterin und zog sie weiter, zu zwei Jugendlichen, die abseits einer größeren Gruppe standen und sich lebhaft unterhielten. »Das sind die Hershell-Zwillinge. Aber sie heißen nicht wirklich so. Der eine Bursche wurde vor sechzehn Jahren in der Provence geboren, der andere zehn Monate später in Massachusetts. Sie haben nichts gemein, sehen sich nicht einmal ähnlich. Und dennoch: Als sie während eines internationalen Ferienlagers in Stockholm aufeinandertrafen, war es vom ersten Moment an so, als gehörten sie zusammen. Sie erzählten von Träumen, die sie seit ihrer frühen Jugend hatten, in denen sie das Leben des jeweils anderen mitbekamen. Sie sind durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden. Beide wissen jederzeit alles über den anderen, ohne allerdings über telepathische Fähigkeiten zu verfügen.«
Die beiden Jungen drehten sich beiseite. Sie ignorierten Sue und Quiniu. Sie wollten unter sich bleiben, wie meist.
Sue zog die Halbarkonidin weiter. »Hier haben wir einige Telepathen und Telekineten. Ihre Begabungen sind nur schwach ausgeprägt, bei manchen Mitgliedern der Gruppe kaum erkennbar. Dennoch bieten wir ihnen an, ihre Fähigkeiten auszuloten und sich mit sich selbst zu beschäftigen. Um darüber nachzudenken, wer und was sie eigentlich sind. Viele von ihnen wurden zeit ihres Lebens schlecht behandelt, andere verbargen ihre Gaben und tun es heute noch. Weil sie Angst vor sich selbst haben.«
Ein etwa sechzigjähriger Mann stand einsam und verlassen auf einer Anhöhe. Er pinkelte gegen eine neu gepflanzte Staude, rülpste laut und furzte. »Das ist Rudy. Seine Herkunft ist unbekannt. Er spricht eine Vielzahl von Sprachen. Solche, die kaum noch jemand beherrscht, und solche, die vor über tausend Jahren ausgestorben sind. Würdest du den Mund aufbekommen und dich mit ihm auf Arkonidisch unterhalten, hättest du nach nur zwei Stunden einen Gesprächspartner, mit dem du dich fließend unterhalten könntest. Allerdings meist übers Saufen, über hübsche Frauen und über Geschlechtskrankheiten. Das sind seine Lieblingsthemen.« Sue schüttelte den Kopf. »Von manchen Menschen, die aufgelesen und hierher gebracht wurden, wissen wir nicht, wer und was sie eigentlich sind. Sie leben in anderen Welten, so wie du. Einige von ihnen sind Savoirs, die ein unglaubliches Zahlengedächtnis besitzen, aber andererseits kaum einen vernünftigen Satz hervorbringen. Oder aber du zeigst ihnen für wenige Sekunden ein Bild, und sie zeichnen es bis ins kleinste Detail nach. Dylan dort drüben spricht vier Sprachen fließend, darunter Russisch und Finnisch. Allerdings sagt er alles verkehrt herum auf.«
Quiniu stolperte über ein Stück Holz und wäre beinahe niedergefallen. War es zuvor schon da gewesen, oder hatte es einer der Telekineten hierher transportiert? Sue blickte sich um, konnte jedoch niemand entdecken.
»Die Grenzen zwischen Verrückten, Hochbegabten und Mutanten verlaufen fließend. Es gibt mittlerweile einige Testreihen, anhand derer wir feststellen können, wo und durch welche Impulse im Gehirn besondere Fähigkeiten entwickelt werden. – Doch können wir uns darauf verlassen, oder gibt es weitere, bislang noch unerforschte Regionen? – Das ist es, wofür sich Ärzte und Wissenschaftler aus allen möglichen Bereichen derzeit am
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