PR NEO 0039 – Der König von Chittagong
Zugang zu den großen Nachrichtenmedien erlaubten. Sue machte sich so klein wie möglich und beobachtete.
Ihre besonderen Sinne erlaubten nur wenig Zielgerichtetheit. Berührungen halfen, in das Innere eines Menschen vorzudringen; doch es gab keine Garantie dafür, dass dieses Verfahren funktionierte. In besonderen Fällen legten sich Schatten vor die Gestalten derjenigen, die sie beobachtete. Sie waren wie hauchdünne Schichten, die sie eine nach der anderen entfernen musste, um ihr Ziel zu erreichen: jene Zellstrukturen, die sie instinktiv verstand und über deren Aufbau sie während der letzten Monate enorm viel dazugelernt hatte.
Da war ein Mann, ein Arzt. Gut gelaunt und beschwingt grüßte er seine Kollegen. Und zeigte dabei nichts von den Schmerzen, die er haben musste; denn der Meniskus des linken Knies war schwer ramponiert und gehörte arthroskopiert.
Solche Kinkerlitzchen interessierten sie nicht. Ihr Hauptaugenmerk galt Menschen, deren Krankheiten und Behinderungen nicht augenscheinlich waren oder eine rasche Heilung erforderten.
Da war diese klein gewachsene Frau, deren Hände beständig zitterten. Alkoholmissbrauch, mutmaßte Sue, um sich gleich darauf die Bestätigung zu holen, indem sie Leber, Herz und Nieren überprüfte und schwere Schädigungen feststellte. Sie bedurften einer intensiven ... Reparatur. Einer, die mit den hier verfügbaren Mitteln durchaus möglich war und keinesfalls ihr Eingreifen bedurfte. Doch sie konnte eines tun: der Frau die Schmerzen lindern. Ihre Kenntnisse der Nervenleitungen waren längst noch nicht so gut, wie sie es gerne gehabt hätte; doch sie wusste um die Bedeutung der Headschen Zonen, jener Bereiche, an denen Schmerz empfunden wurde, der von inneren Organen ausging. Es war eine Fehlfunktion des Großhirns, wie sie wusste. Die Großhirnrinde besaß keinerlei Erfahrung mit Schmerzzuständen; also ordnete es sie einem bestimmten, meist sensiblen Hautgebiet zu. Im Fall eines Herzinfarkts war dies der linke Oberarm, bei Nieren- und Leberversagen erfolgte die Schmerzabstrahlung meist an jene Hautbereiche, die die Organe auch tatsächlich überdeckten.
Sue griff ein. Sie begann mit der Reflextherapie und vollzog eine thermische Beeinflussung der betroffenen Hautbereiche bei der Kleingewachsenen. Eine Reflexumkehr würde zu einer deutlichen Linderung des Schmerzempfindens führen, und das für einige Stunden.
Sie beobachtete die Frau. Eben noch war sie vornübergebeugt gegangen; nun richtete sie sich auf und straffte ihren Körper. Sue tat gut daran, ihr ein dumpfes Pochen zu bewahren. Ihre Patientin musste sich bewusst bleiben, dass sie in ärztlicher Behandlung bleiben musste – und in Suchttherapie.
Sue beendete ihre Arbeit. Na also! Sie hatte geholfen, sie hatte die richtigen Regionen erwischt und hatte erst unlängst erworbenes Wissen angewandt. John würde zufrieden sein müssen ...
Aber nein. Er würde nicht erfahren, dass sie den heutigen Tag wie alle anderen zuvor in der Klinik verbrachte. Andernfalls waren weitere Probleme vorprogrammiert.
Sue holte Getränke und Kleinigkeiten zum Essen. Quiniu Soptor akzeptierte, was sie vor ihr abstellte. Die Halbarkonidin nahm einige Bissen vom Brot, belegte sie mit Wurst und Gewürzgurken, würzte nach, kurzum: Sie benahm sich so, als wäre alles in bester Ordnung.
»Ich bin gerne hier«, sagte Sue schmatzend. »Weil ich gebraucht werde und weil ich wichtig bin. Viel wichtiger als alle Ärzte. Ich kann rascher eingreifen als sie und diagnostiziere besser. Ich rette und verlängere Leben ...«
»Und verkürzt damit dein eigenes«, hörte sie eine Stimme, die Sue zusammenzucken ließ. »Du hast hier nichts zu suchen, junge Frau.«
»Fulkar!« Sie stand auf. »Ich wollte eben zu dir kommen und ...«
»Du bist eine völlig talentfreie Lügnerin, Sue Mirafiore. Also lass es bleiben.«
Der Ara nahm sich einen Stuhl und ließ sich neben Quiniu Soptor nieder. Aller Aufmerksamkeit richtete sich mit einem Mal auf sie, auf dieses ungewöhnliche Trio, und Sue machte sich so klein wie möglich, als sie die Blicke von fünfzig oder mehr Menschen auf sich ruhen fühlte.
Doch Fulkars Gegenwart bereitete ihr noch viel mehr Unwohlsein. Er betrachtete sie von oben bis unten, als wäre sie eine Leiche, die er sezieren wollte.
»Manchmal langweilt ihr Menschen mich«, sagte er dann und griff nach einem der Brote. »Ihr seid berechenbar und reagiert so, wie ich es erwarte. Eure Körperlichkeit ist bei Weitem nicht so interessant
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