PR NEO 0039 – Der König von Chittagong
Sieh dir doch die Fußspuren an.«
»Wer hat sie angeführt?«, fragte er. »War es Bankim?«
»Bankim?« Sie lachte und spuckte aus. »Den gibt es nicht mehr. Seine Leiche wurde gestern unweit von hier an den Strand gespült. Er hat sich offenbar einmal zu oft wichtig gemacht.«
»Und seine Leute? Sein Herrschaftsgebiet? Was geschieht damit? Wird es neu aufgeteilt?« Kakuta konnte nicht sagen, dass es ihm leidtat um das kleine Wiesel.
»Du stellst zu viele dumme Fragen. Ich mag dich nicht, Mann!«
»Lass uns ein paar Schritte gehen«, sagte Ariane in fehlerhaftem Bengali. Der injizierte Translator würde noch eine Weile benötigen, um Wortschatz und Grammatik zu perfektionieren, zumal der chittagongische Dialekt der Landessprache die Sache erschwerte. Sie nahm die Fischerin bei der Hand und führte sie mit sich, hin zum Boot.
Kakuta beobachtete seine Begleiterin. Sie war in den letzten Monaten gereift, und sie übernahm immer mehr Eigeninitiative. Gewiss hing es damit zusammen, dass sie Stimmungen anderer Menschen riechen und interpretieren konnte und ihre Schlüsse daraus zog.
Ariane bückte sich und betrachtete die Verletzung der Frau. Schüttelte den Kopf, griff dann in eine Seitentasche ihres Rucksacks, holte eine Salbe hervor und verteilte sie auf der Wunde. Nach weiteren Worten kehrte sie zu ihm zurück.
»Und? Hast du noch etwas herausgefunden?«
»Meinst du etwa, ich quäle sie mit unwichtigen Fragen?« Ariane starrte ihn böse an. »Ich habe ihr lediglich einige Ratschläge gegeben und eine Tube mit Antibiotikum geschenkt.«
»Damit sind wir nicht viel weiter als zuvor.«
Sie grinste. »Aber ich habe Wurius Geruch noch immer in der Nase. Zumindest einen Hauch davon.«
»Tatsächlich?« Er konnte es nicht glauben. Sie nahm seine Witterung auf, obwohl Hunderte Menschen unzählige Male hier auf und ab gelaufen waren?
»Ach, weißt du, ich habe ihn markiert.«
»Wie bitte?«
»Als wir uns voneinander verabschiedeten, habe ich ihm eine Duftmarke angehängt, die ihn für andere Frauen uninteressant erscheinen lässt. Ich vermute, es hat funktioniert?«
»Du machst mir Angst, Ariane.«
»Das sind bloß die kleinen Tricks einer erfolgreichen Frau. Aber ich würde dir raten, Wuriu kein Wort davon zu erzählen. Sonst hänge ich dir eine Duftwolke an, die du deinen Lebtag lang mit dir herumträgst.«
Ariane führte sie kreuz und quer über das Werftgelände und dann in die Stadt. Durch die Elendsviertel Halishahars, die durch Aufschüttungen vor Überschwemmungen geschützt werden mussten und Seuchengebiet waren. Dahinter glänzten auf den künstlich aufgeschütteten Hügeln Nord-Agrabads die Häuser der Schönen und Reichen, der Drogendealer und ihrer Nutten, der Kriegstreiber und der Kriegsgewinnler, der Politiker, Schmuggler, Werftbesitzer, Diplomaten und hochrangigen UN-Mitarbeiter.
»Das ist widerlich!«, sagte Ariane und schüttelte den Kopf.
Bittere Armut und ungeheurer Reichtum waren durch Mauern und Zäune voneinander getrennt. Bewaffnete patrouillierten entlang eines zehn Meter breiten Streifens, der frei von Schmutz und Hindernissen gehalten wurde. Die gut ausgerüsteten Söldner hielten ihre Maschinenpistolen demonstrativ in die Höhe. Sie trugen Stealth-Jacken und hielten Funkkontakt zu Stellungen mit Bodenraketen, deren Geschosse feuerbereit auf die Slums gerichtet waren.
Sie näherten sich dem Zentrum Chittagongs und umrundeten den zentralen Bahnhof, dessen Hauptgebäude eine Ruine war und durch ein Provisorium ersetzt worden war.
Weitere Bewaffnete zeigten sich. Ein Mann mit übergroßem Smiley-Button unterhielt sich mit ihnen und gab Anweisungen. Überall war das Geschmiere des »Free State of Chittagong« zu sehen. Die Leute des stärksten aller Warlords agierten mit offenem Visier. Es sah so aus, als würden sie gefürchtet, aber auch geachtet und akzeptiert werden.
Ariane wirkte plötzlich unsicher. Sie blickte sich ratlos um, machte einige Schritte hin und her, nahm dann wieder die Fährte auf.
»Da stimmt was nicht«, sagte sie während einer kurzen Pause und wischte sich Schweiß aus dem Gesicht. »Ich habe immer wieder ... Aussetzer. Ich kann in diesen Phasen nichts riechen, gar nichts!«
»Meinst du, dass dich jemand daran hindert?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber es ist ein schreckliches Gefühl. Ich habe mich so sehr an meine Begabung gewöhnt, dass sie mir abgeht, als fehlte mir ein Arm.«
Kakuta musste unwillkürlich an Sue Mirafiore denken. An die jugendliche
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