PR NEO 0044 – Countdown für Siron
geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Das Schott fuhr mit einem grauenerregenden Knirschen auseinander, und ein blassroter Lichtstrahl stand für einen Lidschlag schräg in der Luft. Er begann irgendwo in der Dunkelheit hinter dem Schott und endete auf Iessas Brust – genau dort, wo ihr Herz unter dem graubraunen Pilgermantel schlug.
Die Frau hatte die Augen weit aufgerissen. In ihrem Gesicht mit den rosigen Wangen und der leicht nach oben gekrümmten Stupsnase spiegelte sich grenzenlose Überraschung. Wo der Strahl sie getroffen hatte, erkannte Angech einen kleinen schwarzen Fleck auf dem groben Mantelstoff. Zwei, vielleicht auch drei Sekunden verstrichen in absoluter Lautlosigkeit. Dann kippte Iessa nach vorn und schlug hart auf den Boden des Korridors.
Noch immer sagte niemand ein Wort, standen sie alle wie festgefroren auf der Stelle. Stynn starrte abwechselnd auf die reglos vor ihm liegende Frau und auf das Tastenfeld neben dem offenen Schott. Er schien gar nicht zu begreifen, was geschehen war.
Ghard reagierte als Erster. »Iessa!«
Nie zuvor hatte Angech so viel Schmerz in einer Stimme gehört. Ghard brach neben der Sironerin auf die Knie, packte ihren leblosen Körper und zog ihn an sich. Seine Schultern bebten, und er stieß kehlige Laute aus, die eine Mischung aus Weinen und Schreien waren und schaurig von den Korridorwänden widerhallten.
Angech spürte, wie der Kloß in seinem Hals dicker wurde. Er wollte etwas sagen. Er musste etwas sagen, denn er war der Anführer. Er hatte sie hierher gebracht, und jetzt war die Lage außer Kontrolle geraten. Iessa war tot, und er war verantwortlich. Er war ...
Mit einem Brüllen, das etwas Animalisches an sich hatte, sprang Ghard wieder auf die Füße. Niemand griff ein, als er mit zwei Sätzen Stynn erreichte und diesem die Faust ins Gesicht schmetterte. Der Sironer stolperte rückwärts, versuchte sich am Rahmen des Schotts festzuhalten, rutschte jedoch ab und ging zu Boden. Sofort war Ghard über ihm und prügelte wie besessen auf ihn ein. Angech vernahm ein scharfes Knacken. Blut schoss aus der Nase des Angegriffenen, doch Stynn wehrte sich noch immer nicht. Dann waren Eineo und Yoel heran, packten den tobenden Ghard und zogen ihn von seinem Opfer weg.
»Wir müssen von hier verschwinden«, brachte Angech heiser hervor. »Wir ... wir sind nicht mehr sicher. Stynn ... hilf mir mit ihr!«
Er schob seine Arme unter Iessas Schulterblätter und nickte Stynn ungeduldig zu. Der kreisrunde Fleck, den sein Scheinwerfer auf Wände und Decke des Korridors warf, machte die Bewegung mit. Warum hatte das Schiff nicht auch ihn und die anderen getötet? Dieser Lichtstrahl musste eine Art Laser gewesen sein. Er hatte von entsprechenden Experimenten mit energetisch angeregten Photonen gelesen, doch solche Dinge steckten noch in den Anfängen.
Angech war davon überzeugt, dass Stynns Herumspielen an dem Tastenfeld nichts mit dem Öffnen des Schotts zu tun hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass er durch Zufall den richtigen Kode erwischt und so den Mechanismus aktiviert hatte, war praktisch gleich null. Nein, das Schiff selbst musste sie bemerkt haben. Vielleicht reagierte es erst jetzt, weil es zehntausend Jahre praktisch brachgelegen hatte und sich erst orientieren musste. Vielleicht sollte der Angriff auch lediglich eine Warnung gewesen sein. Niemand wusste, was im Innern dieses stählernen Riesen lauerte – und wie es darauf reagierte, wenn man es störte.
Langsam dämmerte Angech die furchtbare Wahrheit: Dieses ganze Unternehmen war Wahnsinn gewesen! Er hatte geglaubt, das Risiko kontrollieren zu können. Er hatte auch geglaubt, zum Wohle all jener Sironer zu handeln, deren Ideal eine friedliche und geeinte Welt war. Wie dumm und arrogant er doch gewesen war. Wie sehr er sich selbst überschätzt hatte. In seiner Anmaßung und Überheblichkeit hatte er sich als Prophet gesehen, der seiner Heimat die Lösung aller Probleme brachte. An Iessas Tod war nur einer schuld – er ganz allein!
»Greif zu und nimm ihre Beine, Stynn!«, schrie er unbeherrscht. Tränen rannen ihm die Wangen hinunter.
Stynn Jariharatan sah ihn mit stumpfem Blick an, tat dann aber, was man von ihm verlangte. Noch immer lief Blut aus seiner Nase und tropfte auf den Pilgermantel.
Gemeinsam trugen sie Iessa den Weg zurück, den sie gekommen waren. Der Körper war so unglaublich leicht, fast schwerelos, und doch wäre er Angech mehrmals beinahe aus den Händen geglitten. Irgendwann erreichten sie eine
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