PR NEO 0045 – Mutanten in Not
mehr als fünfzehn Jahre zurück. Damals hatten sie ein Haus in einem Dorf im Westen Frankreichs bewohnt, wo hauptsächlich Aussteiger und kommerziell erfolglose Künstler siedelten. Die Spur war nicht die frischeste, aber allemal besser als gar keine.
»Wir landen in Paris«, erklärte Caroline leise dem für alle anderen Passagiere leeren Nebensitz, »fahren von dort mit dem Zug nach Nantes und mieten uns ein Auto. Damit mein Talent anspricht, brauche ich einen Gegenstand, der für die Zielperson einen hohen emotionalen Wert besitzt oder früher einmal besessen hat. Beispielsweise ein Kuscheltier.«
»Hä? Wir Massai leben mit Tieren zusammen, essen ihr Fleisch und trinken ihr Blut. Aber mit ihnen kuscheln?«
»Ein nachgemachter Bär aus Plüsch, Lekoche, mit dem Noir in seiner Kindheit eingeschlafen ist. Oder eine längst nicht mehr funktionsfähige Videokonsole. Von mir aus auch der vergilbte, in irgendeinem Kleiderkasten vergessene Fotoausdruck einer Jugendliebe. Ganz egal, es muss nur etwas sein, woran er früher einmal sein Herz gehängt hat.«
»Europäer hängen ihre Herzen an niedrige Dinge?«
»Pst. – Ich plaudere manchmal mit meinem Kumpel Harvey«, sagte Caroline zu der Nonne, die misstrauisch von der anderen Seite des Mittelganges zu ihr herüberlugte. »Haben Sie denn keinen unsichtbaren Freund, Schwester?«
Nantes war eine tolle Stadt, reich an Geschichte. Caroline bedauerte, dass sie sich nicht länger dort aufhalten konnten.
Während der Zugfahrt hatte sie über die berühmte alte Fabrik Lefèvre Utile gelesen, deren Butterkekse, besser bekannt unter der Abkürzung LU, seit 1886 in die ganze Welt exportiert worden waren. Vollkommen umgebaut, hatte sie am 1. Januar 2000 als Kulturzentrum wieder geöffnet; LU stand nun für »lieu unique«, was »einzigartiger Ort« bedeutete. In die doppelte Rückwand des Gebäudes waren versiegelte Metallbehälter mit insgesamt 11.855 Objekten aus dem 20. Jahrhundert eingelagert, die von ebenso vielen Personen gestiftet worden waren. Eine Art Zeitreisemaschine: Am 1. Januar 2100 sollte der »grenier du siècle«, der »Jahrhundertspeicher«, wieder geöffnet werden. Caroline gefiel diese Idee ausnehmend gut. Wahrscheinlich, dachte sie, würden die Ururenkel der Stifter sich dann ordentlich »abkeksen« und sich wohl auch ein wenig für ihre Ahnen genieren ...
Im Mietauto, einem robusten, geländegängigen Hybridfahrzeug, quengelte Lekoche, dass er auch einmal ans Steuer wolle. »Kommt überhaupt nicht infrage«, lehnte Caroline rigoros ab. »Ich möchte keinerlei Aufsehen erregen. Auch in dünner besiedeltem Gebiet wäre die Gefahr viel zu hoch, dass jemand Alarm schlägt, weil er einen PKW ohne Fahrer sieht. Immerhin ist dies eins der bevölkerungsstärksten Departements von Frankreich.«
»Du könntest mit Autopilot unterwegs sein.«
»Nicht abseits der Hauptverkehrsrouten und nicht mit einem solchen Wagen. Vergiss es!«
Der junge Massai schmollte, jedoch nicht lang.
Die Aussteigersiedlung unweit der Ortschaft Saint-Aubin-des-Châteaux, etwa 70 Kilometer nördlich von Nantes, entpuppte sich als ehemaliger Campingplatz mit unterschiedlich luxuriös ausgebauten Hütten, die einen kleinen, idyllischen Teich umgaben. Dank ihres Translator-Implantats hatte Caroline keine Schwierigkeiten, sich zum Haus der Noirs durchzufragen. Es stand inmitten dichter, unbeschnittener Holunderbüsche, war zweistöckig, wirkte gedrungen, verwittert ... und verlassen. Andererseits lag auf dem Komposthaufen ein dichtes Bouquet aus mindestens drei Dutzend Rosen, die nicht viel älter als ein, zwei Wochen sein konnten.
Nichts in der näheren Umgebung deutete auf die Anwesenheit von Bewohnern hin. Vögel tschilpten, Insekten summten; von sehr fern erklangen die metallischen Töne eines fremdartigen Instruments, möglicherweise eines Gamelans, wie es auf Java und Bali gespielt wurde. Aber das Grundstück erschien ausgestorben.
Die Einheimischen, die Caroline den Weg gewiesen hatten, waren wenig mitteilungsfreudig gewesen. Mürrisch geradezu. »Zum Haus der Noirs? – Da lang, dann links.« Mehr hatte sie keinem entlocken können, jeder hatte sich gleich wieder weggedreht. Ganz so, als wäre die Familie geächtet, selbst in dieser Gemeinde von Sonderlingen.
Vom unversperrten, seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gestrichenen Gartentor führte ein holpriger Kiespfad zur massiven, hölzernen Vordertür, deren ursprüngliche Farbe sich ebenfalls kaum noch erahnen ließ. Es
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