PR NEO 0045 – Mutanten in Not
gab keine Klingel. Caroline klopfte. Keinerlei Reaktion. Sie ging an der Vorderfront entlang und sah durch ein Fenster, über dessen Rahmen sich ein Spinnennetz spannte. Im Zentrum lauerte eine prächtige, mitsamt den Beinen fast vier Zentimeter lange Gartenkreuzspinne auf Beute. Einige mit Sekretbändern umwickelte Reste von Fliegen oder Wespen hingen bereits im Netz. Caroline fürchtete sich nicht vor Spinnen, aber ein wenig unheimlich wurde ihr schon zumute.
Drinnen war es dunkel und nicht viel zu erkennen. Keinerlei glimmende Lichtpunkte von betriebsbereiten technischen Geräten. Verschwommene Umrisse von Sitzmöbeln; eine antike Standuhr, deren vergoldetes Zifferblatt matt funkelte. Die Uhr hatte keinen Sekundenzeiger, von daher war nicht festzustellen, ob sie noch ging.
»Was nun?«, fragte Lekoche leise. »Sollen wir einbrechen?«
Caroline überlegte noch, als ein sich näherndes Geräusch die Stille durchbrach.
Auf der Zufahrtsstraße fuhr ein Auto vor und parkte neben dem Mietwagen.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«, fragte missmutig die weit über siebzig Jahre alte, knochige Frau, die dem staubigen Elektroauto entstiegen war und in klappernden Sandalen auf Caroline zugeschlurft kam. »Hier gibt's nichts zu erben. Das Anwesen ist unverkäuflich.«
»Ich suche André Noir. Wir waren ... zusammen, vor etlichen Jahren. Das ist doch das Haus seiner Eltern?«
Die Matrone verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Bist du Kathrin? Die Deutsche? Aus, wie heißt das Kaff, Frankfurt?«
»Frankfurt am Main.« Das war noch keine Lüge, nur eine Ergänzung.
»Sie haben mächtig viel gestritten deinetwegen.«
Nun gut, dachte Caroline, der Hase läuft. Ihr Gegenüber bettelte förmlich um den Einsatz von Cold Reading . Diese psychologische Technik wurde gern von Trickbetrügern und Varieté-Hellsehern angewendet, zählte aber längst auch zum Standardrepertoire polizeilicher Verhöre. Laut sagte sie: »Eigentlich war alles ein bedauerliches Missverständnis.«
»Was soll daran falsch zu verstehen sein, wenn ein Luder den Bengel vor die Wahl stellt, entweder sie oder sein Elternhaus? Noch dazu eine Kanaille, die für die Atomindustrie arbeitet!«
Caroline vollführte eine Geste des Bedauerns. »Ich weiß, ich hätte damals nicht so strikt sein dürfen.« An sich ließ man Auszuhorchende möglichst ununterbrochen reden. Sie hatte jedoch das Gefühl, rasch ein paar Sympathiepunkte sammeln zu müssen, damit sie nicht flugs des Grundstücks verwiesen wurde. Offensichtlich erfreute sich Kathrin aus Frankfurt hierorts nicht eben rasender Beliebtheit. »Hinterher ist man immer gescheiter. Inzwischen bin ich bei Sea Shepherd.«
Es war eine spontane Eingebung. Diese militante Umweltschutzorganisation, die hart am Rand der Legalität gegen Walfang, Robbenjagd und generell die Ausbeutung und Verschmutzung der Meere kämpfte, sollte auch in Frankreich ein Begriff sein und für altgediente AKW-Gegner positiv besetzt sein.
»Ach?«, sagte die resolute alte Dame nur. Sie kramte in ihrer Umhängetasche und holte schließlich einen schweren, altertümlichen Schlüsselbund heraus.
»Ich habe schrecklichen Durst. Könnte ich wohl ein Glas Wasser bekommen, Madame ...?«
»Lavallière. Aber alle Welt nennt mich Louise.« Nachdem sie umständlich einen Schlüssel ausgewählt hatte, entriegelte sie das Schloss und stieß ächzend die Eingangstür auf. »Warte hier. Ich muss erst die Hauptsicherung einschalten. Sonst rennst du mir wo dagegen und machst noch mehr kaputt, als du ohnehin bereits auf dem Gewissen hast.« Abfällig schnaubend verschwand sie im Hausinneren.
»Soll ich ...?«, flüsterte Lekoche Kuntata.
»Ja. Aber sei vorsichtig!«
Etwas wie ein leichter Luftzug strich an ihr vorbei.
Einige Sekunden später ging das Licht im Vorraum an. Caroline blieb trotzdem zwischen Tür und Angel stehen. Ein weiterer Höflichkeitsbeweis konnte nicht schaden.
Sie musterte den fensterlosen Windfang. Keine Kleidergarderobe, stattdessen diverse Aufbewahrungsmöglichkeiten für Werkzeug und Gartengeräte. Am Boden eine verbeulte Metallschüssel, voll mit Blumenzwiebeln, daneben zwei Paar dunkelgrüner Gummistiefel, auf einem Schränkchen zwei Paar ebensolcher Arbeitshandschuhe. Der Wandkalender einer Reifenfirma zeigte das Blatt für den Monat April 2037. Vor nicht allzu langer Zeit hatten Bertrand und Claire Noir also zumindest noch ihren Garten bewirtschaftet.
Madame Louise kehrte zurück, ein bauchiges
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