PR Odyssee 06 - Die Lebensboten
die Philosophen der Antike teilen die modernen Kosmologen die Welt in vier Bereiche ein, von denen jeder charakteristische physikalische Eigenschaften hat«, resümieren Wolfgang Priester und James Overduin von der Universität Bonn. Sie erinnern an den sizilianischen Philosophen Empedokles, der im 5. Jahrhundert v.Chr. in seinem Buch >Über die Natur< geschrieben hatte: »Die vier Wurzelgebilde aller Dinge höre zuerst: leuchtendheller Zeus (Feuer) und lebensspendende Hera (Erde) und Aidoneus (der >Unsichtbare< - Luft) und Nestis (die >Fließende< - Wasser), die mit ihren Tränen den sterblichen Quellstrom befeuchtet.« Aus diesen vier Substanzen - Erde, Wasser, Luft und Feuer - ist Empedokles zufolge die Welt aufgebaut, und zwei Kräfte halten sie ihm zufolge in Bewegung: eine trennende (Hass) und eine vereinigende (Liebe).
So anschauliche Metaphern haben die modernen Elementarteilchenphysiker - diese >Mönche der Materie<, wie sie einmal genannt wurden - nicht mehr. Immerhin hallt Empedokles' Einteilung in der Unterscheidung der vier Aggregatzuständen der Materie - fest, flüssig, gasförmig und Plasma - noch heute nach. Aber Priester und Overduin zufolge lässt sich die antike Einteilung der vier Elemente durchaus aktualisieren und in die moderne Physik einpassen:
• Erde steht für die baryonische Materie - vom einsamen Wasserstoff-Atom zwischen den Galaxien bis hin zu den superdichten Neutronensternen, den Ruinen in sich zusammengestürzter, ausgebrannter Sonnen.
• Wasser steht für die ominöse Dunkle Materie, die wahrscheinlich aus unentdeckten, in ihrer Existenz von manchen Theorien der Physik aber seit langem vorausgesagten exotischen Elementarteilchen bestehen, die so klingende Namen wie WIMPs, Axionen und Neutralinos haben. So wie die Meere auf der Oberfläche unseres Heimatplaneten das Festland weit übertreffen, dominiert auch die Dunkle Materie im All: Ihre Gesamtmasse beträgt fast das Zehnfache der baryonischen Materie.
• Luft repräsentiert die flüchtige Strahlung (Photonen) und die Heiße Dunkle Materie. Letztere besteht wohl größtenteils oder sogar ausschließlich aus Neutrinos. Diese Geisterteilchen wiegen fast nichts, füllen aber zu Myriaden das All aus und durchdringen mühelos ganze Himmelskörper mit beinahe Lichtgeschwindigkeit. In jedem Kubikzentimeter des Weltraums schwirren ein paar Hundert Neutrinos. Die Zahl der Photonen liegt in derselben Größenordnung.
• Feuer schließlich macht den neuen Erkenntnissen zufolge den Löwenanteil des Kosmos aus und steht für die Dunkle Energie, die wie eine Antigravitation wirkt und gegenwärtig die Ausdehnung des Weltraums beschleunigt. Obgleich sie einer riesigen Gesamtmasse entspricht, muss sie so fein verteilt sein, dass ihre Energiedichte kaum vier Elektronenvolt pro Kubikmillimeter beträgt. (Zum Vergleich: Ein einzelnes Elektron hat schon eine Ruhemasse von 511.000 Elektronenvolt.)
Warum das Universum aus diesen vier grundverschiedenen Bestandteilen aufgebaut ist und weshalb ihre relativen Mengen so und nicht anders sind, versteht bislang niemand. Michael Turner spricht sogar von einem >widersinnigen Universum<.
Charles Lineweaver von der University of New South Wales in Sydney versucht mit einer bodenständigen Metapher die kosmische Bestandsaufnahme zu veranschaulichen: »Vergleicht man das Universum mit einem Cappuccino, dann ist der Kaffee die seltsame Vakuum-Energie. Die ebenso rätselhafte Dunkle Materie ist die Milch. Und die Planeten, Sterne und Galaxien sind das Schokoladenpulver auf dem Schaum.«
Alle neueren kosmologischen Daten sprechen also eindeutig für die Existenz dieser Dunklen Energie. Nicht nur Astronomen, sondern auch Physiker werden künftig nicht mehr daran vorbeischauen können. »Diese Zahlen sind alarmierend«, formuliert Michael Dine von der University of California in Santa Cruz die Mischung aus Erstaunen, Begeisterung und Ratlosigkeit, die sich unter den Experten breit macht. Und Michael Turner fragt hilflos mit den Augen rollend: »Dunkle Energie - wer hat die bestellt?«
Galaxien verschwinden
»Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.« Diese Bemerkung des französischen Malers Paul Cezanne stammt zwar aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, hat aber geradezu visionäre Kraft. Denn die neuen Erkenntnisse der Kosmologie deuten darauf hin, dass künftig tatsächlich immer mehr vom Universum aus unserem Blick verschwinden wird - weil es sich auflöst oder hinter
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