PR Rotes Imperium 01 - Die fossile Stadt
sie in die Seitentasche seines abgetragenen Sakkos und atmete tief durch. Er hatte diese Enge satt, so satt…
Eigentlich standen alle Ampeln auf Grün. Die Bauarbeiten für die Olympischen Spiele 1972 und die Fußballweltmeisterschaft zwei Jahre darauf waren in vollem Gang. Die Region Bayern profitierte enorm, und das enge Geflecht von Wirtschaft und Politik schien endlich einmal entwirrt zu werden. Eine neue Generation an Journalisten wagte es, die Missstände in der Bundesrepublik mit lauter Stimme anzuprangern. Der »Spiegel« griff die heikelsten Themen auf und ließ sich selbst von jenen Mechanismen der sogenannten Freunderlwirtschaft nicht abschrecken, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs griffen.
Und dennoch… ihm ging alles viel zu langsam. Umweltbewusstsein war ein Tabuthema, das ganz klar auf Kosten des Wirtschaftswachstum ging. Die Menschen achteten auf sich selbst und das bescheidene Glück innerhalb ihrer eigenen vier Wände. Kaum einer wagte es, seinen Horizont zu erweitern und global zu denken.
Die Stadt, das Land, die Welt – sie alle gierten nach einem Propheten. Nach einem Erlöser, der die Bedrohungen des Kalten Krieges für nichtig erklärte und den Staub der Vergangenheit endgültig beiseite kehrte.
John F. Kennedy war der Hoffnungsträger einer ganzen Generation gewesen. Mit seinem selbstbewussten Auftreten, mit seinem bubenhaften Charme, mit einer bezaubernden Jackie an der Seite. Doch die Mächte des Schicksals hatten nicht gewollt, dass er seine Träume verwirklichen durfte.
Konnte die Mondlandung etwas bewirken? Würde sie den entscheidenden Impuls in Richtung Völkerverständigung und Weltfrieden liefern?
Ellert bezweifelte es. Dieser Perry Rhodan war zwar ein beeindruckender, blitzgescheiter Mensch; zumindest gab er sich in den Interviews als ein solcher. Doch er war zu ruhig und besaß nicht das Charisma eines großen Mannes. Er war lediglich die öffentliche Speerspitze eines politischen Systems.
Vielleicht wuchs der Mann an seiner Aufgabe. Wenn die Landung auf dem Mond glückte, würde man ihn mit der notwendigen Propaganda-Arbeit zur Ikone eines jungen, enorm leistungsfähigen Amerika machen.
Und damit den Wettlauf zwischen den USA, der Sowjetunion und der Volksrepublik China weiter anfachen.
Nein. Ernst Ellert sah derzeit niemanden, der den drohenden Untergang der Erde verhindern konnte. Die Uhr des Club of Rome, die die politische Situation der Welt mit ihren beiden Zeigern symbolisch darstellte, stand auf zwei Minuten vor Zwölf.
Verwirrt blickte er um sich. Er hatte den Englischen Garten erreicht. Wie so oft hatte ihn sein Unterbewusstsein an diesen Ort der Erholung gelenkt. In zwei Tagen, so dachte er mit einem Frösteln, würde er Resi hierher bringen und für ihre Rettungstat in der Redaktion der Abendpost bluten.
Sanfter, etwas zu kühler Wind kräuselte die Oberfläche des Kleinhesseloher Sees. Horden von Kindern liefen über die Wiesen. Burschen ließen Drachen steigen oder jagten billige Plastikbälle umher, die Mädchen standen in Gruppen beisammen und tuschelten leise.
Liebespärchen lagen vereinzelt im Schatten der breit ausladenden Kastanienbäume, die überall im Park zu finden waren. Selbst ältere Leute ließen sich von der offenen, lebensbejahenden Stimmung in diesem größten Naherholungszentrum der Stadt anstecken. Barfüßig streiften sie durch die Wiesenflächen. Aus den Biergärten drang ausgelassenes Gelächter.
Ellert atmete tief durch. Seine Stimmung besserte sich mit all dem Grün rings um ihn. München zeigte so viele, so unterschiedliche Gesichter. Manche waren verachtenswert, andere machten Mut. Dies war eine Stadt am Scheideweg. Am Beginn der Moderne stehend, den grauen Schleier einer dunklen Vergangenheit ablegend.
Er passierte den Chinesischen Turm. Einen Bau, der überhaupt nicht hierher passte – und gerade deshalb attraktiver Anziehungspunkt für Touristen aus ganz Deutschland war.
Die Stimme eines Sprechers dröhnte aus einem Kofferradio. Bayern Drei sandte Weltnachrichten. Die Befindlichkeiten der amerikanischen Astronauten standen an erster Stelle der Berichterstattung. Ein seltenes Exklusivinterview mit dem russischen Raketenpionier General Walerij Tomisenkow brachte keine Neuigkeiten über die Pläne des Ostblocks, was eine Eroberung des Weltalls betraf. Erst danach folgten beunruhigende Berichte über den sich immer weiter zuspitzenden Konflikt zwischen den Supermächten.
Niemand hörte zu. Jedermann lachte, jedermann
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