PR TB 014 Die Nacht Des Violetten Mondes
weißbemalten Schamanen, setzte sich an die Spitze des
Zuges.
„Der Tanz des großen Feuers...“, schrie eine
kreischende Stimme. Sie überschlug sich und erstarb in einem
langgezogenen Murmeln. Das Klagen der Weiber wurde wieder von den
Gongs übertönt.
Dann bewegten sich die Krieger nach vorn. Das Licht der Flammen
spiegelte auf ihren aufgerissenen Mündern und scheußlich
verzierten Wangen. Blicklose Augen waren auf irgendeinen Punkt
gerichtet, der nicht sichtbar war; die Männer sahen den Geist
des großen Feuers.
Anahay blieb im Schatten des Dorfrandes stehen.
Die Musik wurde lauter, während die Krieger sich langsam und
ruckweise im Kreis bewegten. Es war, als bewege sich eine riesenhafte
Schlange in einem weiten Kreis um die drei Hütten, das Feuer und
den Holzstapel in der Mitte des Platzes. Ruckartig, schleifend, unter
dem dröhnenden Klang der Bronzetrommeln.
Die Trommelschläge wurden allmählich stärker und
schneller. Oder - vielleicht war es nur Einbildung? Der Rhythmus
blieb, wurde aber schneller, kräftiger, härter. Der Ton
wurde durchdringender, entschlossener, und die schlummernde Drohung
durchdrang die Nerven. Die geschlossene Kette der Krieger umtanzte
mehrere Male den Mittelpunkt des Dorfplatzes, immer unter der Führung
der fast nackten Gestalt des Schamanen.
Plötzlich ein Schrei: „Der tote Häuptling!“
Ein langgezogenes Dröhnen aller Kehlen. Die Gesichter
strafften sich, die Arme schienen sich zu erheben, nach einem
verborgenen Leichnam zu greifen - die Menge teilte sich. Aus dem Haus
des Schamanen kam eine kleine Prozession heraus: vier Männer
trugen eine weißeingeschlagene Gestalt. Hinter dem toten
Stammeshäuptling schritten seine zehn Frauen
- die Hände waren ihnen zusammengebunden, und ihre Körper
waren mit nichts anderem geschmückt als mit dünnen
Platinblechen, die kunstvoll gearbeitet waren und mit Kalk bemalt.
Unter dem Dröhnen der Bronzetrommeln und den hallenden Schreien
der Mundorgeln bewegte sich der Zug schweigend, starr und feierlich
bis zum großen schräggeschichteten Holzstoß. Es war
der Brauch, mit dem toten Häuptling seine Habe zu verbrennen.
„Aiihh!“
Die Gedanken des stillen Zuschauers bewegten sich zurück...
Jahrtausende...
Zweihundert Jahre und mehr vor der Zeitrechnung hatten die
Menschen diesen Brauch auf der Erde gepflegt - in vielen Stämmen
war es üblich, Diener, Frauen, Pferde und den gesamten Besitz
mit ins Grab zu geben, um dem toten Häuptling das Zweite Leben
zu erleichtern.
Hier war dieser barbarische Brauch wieder aufgeflammt.
Lasse Menschen zweihundert Jahre unbeaufsichtigt, nimm ihnen den
Kontakt zur Kultur, gib ihnen Land und Klima, das die Geistesarbeit
ausschaltet und die Lethargie fördert... stoße sie hinein
in die Fremdform der arkonidischen Splitterkultur, und da hast du
dieses Ergebnis. Die Augen des Betrachters wurden größer
vor Staunen, als er die folgenden Vorgänge sah.
„Das große Feuer...“, schrie der Schamane
eifernd und gellend.
Er schlich langsam nach vorn.
An den zehn Frauen vorbei, die starr und von den Feuerstrahlen
umblitzt im Platinschmuck dastanden, neben dem Leichnam. Der Zauberer
breitete die Arme aus, schien fast zu springen, als er den
langhingestreckten Körper endlich erreicht hatte. Drei alte
Krieger, schrecklich bemalt und fast nur aus Haut und Knochen
bestehend, kamen hinter ihm her.
So still war plötzlich die Menge, daß Anahay das
Knistern und Prasseln des Feuers hören konnte.
Der Schamane sank neben dem Körper nieder, hob mit zitternden
Fingern das Laken. Das Haupt wurde enthüllt. Es war mit
gehämmertem Platinblech bedeckt, in den Augenhöhlen
steckten schimmernde Bernsteinblöcke. Die Augen schienen zu
leben. Der Gram des gesamten Stammes war in dem ausgemergelten Körper
des Schamanen versammelt, als er aufstand und seine schrille Klage
hinausschrie: „Aiih!“
Schwach rührten die Musiker an den Trommeln.
„Wind vom See, weh! Trage ihn über die Erde.“
Zweitausend Kehlen murmelten: „Aiihh!“
„Weh - Wind vom Land! Ihr Fischadler, schwinget die Ruder.“
„Aiihh!“
„Der Regenbogen ist das Fahrzeug. Der Regenbogen ist die
Brücke, und der Fluß wird überschritten. Aiihh! Weh,
Wind vom See... !“
Die Totenklage verstummte.
Feierlich kam ein Krieger mit einem großen, glänzenden
Becher heran. Er übergab ihm dem Schamamen, und dieser wandte
sich an die Frauen. Die scharfen Augen Anahays bemerkten, daß
die Frauen ausnahmslos jung waren.
Die
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