PR TB 014 Die Nacht Des Violetten Mondes
Handfesseln wurden gelöst. Die Krieger hielten jetzt
helle Fackeln in den Händen. Jeder der Frauen wurde ein Schluck
eines unbekannten Getränks eingeflößt, und sie ließen
die Prozedur schweigend über sich ergehen. Dann brachte man den
Leichnam auf den Scheiterhaufen und legte ihn nieder.
Langsam folgten die Frauen. Sie stiegen hintereinander auf den
Holzstoß, und die Trommelgongs rasten. Dann setzten sich die
Frauen mit dem Rücken gegen den Leichnam, und ihr Blick wurde
glasig und starr. Anahay wußte, daß der Becherinhalt ein
schnellwirkendes Gift war; die Frauen waren tot, noch ehe der Stoß
angezündet wurde.
Endlich brannten die Hölzer. Ein betäubender, stechender
Geruch wallte mit dem dichten, weißen Qualm über den
Dorfplatz, und langsam zog sich Anahay zurück.
An einem unauffälligen Ort vergrub er seine Waffen und eilte
dann bachaufwärts, wo an einer bestimmten Stelle zwei
Plastiksäcke versteckt waren. Beim Licht eines gelben, halben
Mondes grub er die Säcke aus und verstaute sie unter einigen
flachen Steinen, über die der Bach plätscherte. Dann nahm
er wieder eines der kleinen Kästchen aus dem hohlen Schaft
seines Beiles und verband einige Zuleitungen. Niemand hörte das
bedächtige, leise Ticken. Für ihn aber war dieses Geräusch
von lebenswichtiger Bedeutung.
*
Die Nacht war von langanhaltendem Lärm erfüllt.
Die Bronzegongs und die Mundorgeln erfüllten den Wald mit
langen Schreien und hämmernden Schlägen, und weder
Kormorane noch Beuteltiere kamen zur Ruhe. Auch Anahay schlief nicht.
Vertraut mit den Sitten der Eingeborenen auf Amboina wußte er,
daß der neugewählte Häuptling morgen mit dem
Schamanen und einem Zug ausgewählter Krieger den Totempfahl
besuchen und dort opfern würde. Das war die erste Zeremonie nach
der Amtsübernahme.
Früh am Morgen ging Anahay gemessenen Schrittes durch das
Dorf und sah die Spuren des vergangenen Tanzes. Die Aschehaufen, die
Spuren der lederbewehrten Füße und abgerissenen Halme
gekalkten Reisstrohs. So schlenderte Anahay durch die gesamte Länge
des Dorfes, betrachtete sinnend die Bronzetrommeln und ging auf das
Palaverhaus zu, als ein Bote hinter ihm herlief und ihn einholte.
„Wanderer von fern“, sagte er und blickte vorsichtig
auf die glänzenden Speerschäfte, die von langem Gebrauch
abgewetzt waren, „mein Herr, der neue Häuptling, wünscht
dich zu sehen. Er weiß, daß du ein Mächtiger bist
unter seinesgleichen und will mit dir sprechen und dir Ehre
erweisen.“
„Gehe zum Häuptling zurück, Sklave“, sagte
Anahay und senkte den Schild etwas, „und sage ihm: Ich bin
Anahay und möchte nichts anderes als einen Platz haben, an dem
ich ruhig schlafen und meinen weisen Gedanken nachgehen kann. Sage
ferner dem Häuptling, daß ich mit ihm sprechen will und
ihn bitte, mich dort am Ufer wohnen zu lassen. Ich werde hier
warten.“
Der Bote stob davon. Einige Minuten später kam ein junges
Tanzmädchen und brachte dem Wanderer einen Becher.
„Herr - mein Häuptling schickt mich und diesen Becher
voll Palmwein. Beides ist dein Eigentum.“
Für alle Augen, die versteckt die Szene beobachteten,
deutlich sichtbar, trank Anahay den Becher leer, dann gab er ihn dem
Mädchen zurück.
„Hier“, sagte er, „trage meinen Schild. Wo
wartet der Häuptling?“
Der Häuptling wartete vor dem Eingang seines Hauses.
Das Haus war reichverziert und sehr neu. Der wie ein Schiff
geschwungene Giebel trug das Zeichen seines neuen Besitzers; es war
die Hand, die einen Dolch hielt.
Selbstverständlich kannte Anahay nicht nur die Sprache
Amboinas, sondern sämtliche Sitten. Der Häuptling wartete
vor dem Haus. Dort standen vier leere Bronzehocker vor einem
Holztisch, der mit einer kunstvolle gewebten Grasmatte belegt war.
Der Häuptling stand auf, und die beiden Tänzerinnen, die
rechts und links neben ihm saßen und ihm Luft zufächelten
und Fliegen abwehrten, erhoben sich auch. Der Schamane kam aus einem
anderen Haus herangeschritten und stellte sich neben Anahay. - „Ich
grüße dich, Häuptling“, begann Anahay.
„Ich grüße dich, Wanderer von fern. Was führt
dich in diesen Teil der Wälder?“
„Ich suche die Einsamkeit. Und ich stelle mich in den Dienst
deiner Herrlichkeit - wann immer du meines Ratschlags bedarfst.“
„Hier bin ich der Schamane“, sagte der alte Mann
angriffslustig, und er blickte Anahay wild von der Seite an. Anahay
beachtete ihn nicht und schwieg. Der Häuptling streckte seine
Hand aus und ergriff
Weitere Kostenlose Bücher