PR TB 014 Die Nacht Des Violetten Mondes
Anahays Gelenk; beide Männer schüttelten
die Hände. Die freundschaftliche Begrüßung war
vollzogen.
„Ich werde dich aufsuchen, wenn ich deinen Rat brauche, du
weiser Wanderer“, sagte der Häuptling. Er war noch jung,
und in seinen Augen lag ein gewisses Funkeln; er schien sich an seine
neue Macht und die damit verbundenen Annehmlichkeiten sehr schnell
gewöhnt zu haben.
Die zwei Mädchen an seiner Seite rührten sich nicht, nur
die breiten, weißen Fächer schwangen im Takt hin und her.
Neben Anahay saß das Tanzmädchen und hielt Schild und
Becher, und auf der anderen Seite kauerte der Schamane auf dem
Bronzehocker.
„Ich werde den Häuptling beraten, so wie ich den alten
Häuptling beraten habe“, sagte der Alte. Anahay schwieg
und blickte den jungen Mann vor sich an, dessen muskulöse Arme
mit breiten Platinreifen umwunden waren. Um den Hals trug er eine
Kette aus Bernsteinblöcken, die mindestens fünf Pfund wog.
„Jeden werde ich fragen, wenn ich will!“ betonte der
Häuptling. „Ich bin der Häuptling dieses Stammes, und
alles gehört mir. Ich bin der Herr!“
„Recht so“, sagte Anahay zustimmend. „Vergiß
nicht - ich wohne am See. Mein Wappenvogel ist der schwarze Kormoran,
der Vogel des Todes.“
„Ich werde kommen“, wiederholte der Häuptling.
„Dieses Mädchen ist mein Geschenk.“
„Ich danke dir dafür“, sagte Anahay mit
unbewegter Miene.
Er streckte eine Hand aus und ließ einen würfelförmigen
Gegenstand auf den Tisch vor den Häuptling fallen. „Dies
ist mein Gegengeschenk. Betrachte es!“
Der König hielt den Würfel nahe vor seine Augen. Als die
Wärme seiner Hand genügend lange eingewirkt hatte, begannen
sich tief im Innern des Würfels kleine Figuren zu bewegen. Sie
erzählten eine Geschichte: Sie bildeten - wie ein kurzer Film -
eine Prozession, die von
dem Häuptling angeführt, in das Tor eines mächtigen
Schiffes hineinging und dort verschwand. Der Glanz und die Größe
des Schiffes waren über alles erhaben; später kamen die
Figuren wieder heraus und brachen unter der Last von Geschenken fast
zusammen. Und dann kam ein prächtig gekleideter Mann und
verneigte sich tief vor dem Häuptling. Die Bilder wechselten -
Boten wurden in alle Teile der Welt Amboina entsandt und erzählten
den Häuptlingen die Geschichte. Und alle Häuptlinge kamen
zusammen und wählten ihn - den jungen Herrscher - zu ihrem
Fürsten. Die Gestalten verschwanden.
Anahay lächelte innerlich.
Die Variationsmöglichkeiten dieser kleinen Maschine waren
fast unbegrenzt hoch. Sooft der Häuptling den Würfel
betrachtete, so viele Geschichten würde er erzählen... und
die Phantasie kann ein großartiges Werkzeug sein, wenn man sie
richtig lenkt.
„Dies ist ein würdiges Geschenk, Weiser - ich danke dir
und werde dich besuchen.“
Die Männer trennten sich.
*
Einige Stunden später umstand eine seltsame Gruppe den
Totempfahl. Der Schamane, der junge Häuptling und sieben
ausgesuchte Krieger warteten vor dem weißschwarzen Stamm. In
einem kleinen Feuer verbrannten drei kleine Fische, und der Rauch
stieg auf der Lichtung kerzengerade in die Luft. Über den
Wipfeln der Akaripalmen zerteilte er sich. Es war Mittag, die Sonne
Naral stand senkrecht. Die neun Männer warteten darauf, ob der
Stammesgott das Opfer annahm. Löschte das Feuer aus, so zürnte
der Gott, und der Schamane mußte einen großen Zauber
machen.
Weiter verbrannten die Fische, senkrecht stieg der Rauch... die
Zeit verging. Die drei Fische wurden restlos verbrannt, das Feuer
erlosch.
Ein langer Blick des Schamanen traf den Häuptling.
Haß und Unsicherheit lagen in dem Blick.
Vierhundert Meter weiter nördlich klammerte sich Anahay an
die Früchte einer Akaripalme und äugte scharf auf die
Lichtung hinüber. Als das Feuer niedergebrannt war und die
Männer ihre Köpfe auf die Arme legten, um sich zu
verneigen, drückte Anahay auf einen Knopf, der Teil der
Griffzier seines Dolches war. Ein winziges Band begann sich zu
drehen, und ein Lautsprecher wurde in Schwingungen versetzt.
„Herrscher — ich sehe dich.
Kurz ist das Leben, und kurz ist deine Herrschaft. Du wirst der
glücklichste, mächtigste und schönste Herrscher sein,
den die Wälder um den See kennen.
Denn du hast einen Ratgeber bekommen durch das Schicksal und den
Rat der Stammesgeister. Es ist ein „wandernder Weiser, und er
kommt von fern. Alles, was er sagt, ist Wahrheit. Er ist klug, und
seine Ratschläge sind mit Metall nicht aufzuwiegen. Er
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